Die Morgensonne, die die dichten Nebelschwaden allmählich zurückdrängte,
tauchte das alte Gemäuer nach und nach in ein sanftes, schwach rotes Licht.
Die alten, knorrigen Bäume, die den Weg zum Herrenhaus säumten, wiegten
sachte im Wind. Nur das Rauschen des Windes war zu hören und vereinzelt
ein paar Vogelstimmen.
Wessen Auge auch immer dieses Szenario erblickte, war sofort davon verzaubert
- na ja, sagen wir, fast jedes.
„Ist das wundervoll! Und so romantisch! Es würde mich nicht wundern,
wenn gleich ein Märchenprinz auftauchte oder ein Geist oder beides oder...“
An dieser Stelle unterbrach Patricia den Freudentaumel ihrer Freundin. Unwirsch
warf sie ihren Rucksack zu Boden, holte tief Luft und legte los: „Meine
liebe Mara, hättest du mir vorher mit auch nur einem Wort angedeutet, daß
dieser ach so erholsame Urlaub statt vereinzelter, kleiner Spaziergänge,
wie du sie nanntest, ganze Tagestouren, genauer Gewaltmärsche beinhalten
würde... hätte ich, ich hätte hundertprozentig.... Mara? Mara,
wo bist du denn?“
Mara hatte sich nicht weiter um Patricias Ausbruch gekümmert, sondern
war einfach seitab des Weges näher an das Haus herangegangen. Vorsichtig
beta-stete sie die größtenteils von Moos bedeckten Wände. Patricia
blieb schließlich nichts übrig, als ihr zu folgen, mürrisch
nahm sie ihren Proviant auf und marschierte, Verwünschungen murmelnd, los.
Als sie bei Mara ankam, begann diese, noch bevor Patricia erneut nörgeln
konnte, aus ihrem Reiseführer vorzulesen: „Ein ganz besonderer Zauber
umgibt die Besitzungen von Lightning Heights. Die Sage berichtet, daß
der Name diese Ortes von einem schier unglaublichen Gewitter herrührt.
Alte Einwohner der näheren Umgebung, die noch mit Geschichten aus längst
vergangener Zeit vertraut sind, berichten, daß ein böser Zauberer
das Unwetter heraufbeschworen habe, um die Besitzer zu vertreiben und das abgeschiedene
Fleckchen für seine dunklen Machenschaften zu mißbrauchen.“
Mara strahlte ihr Gegenüber an. “Na, beeindruckt dich diese Sage
denn überhaupt nicht?“
„Mich würden ein Kaffee, ein paar Spiegeleier, et-was Brot, Marmelade
und ein bequemer Stuhl weit mehr beeindrucken! Ich hoffe, diese martialische
Behausung und die liebliche Natur faszinieren dich derartig, daß du hier
geraume Zeit rasten möchtest! Meine Füße sind mit Blasen übersät
und mein Kreuz bricht mit Garantie, wenn ich diesen unförmigen Beutel,
den du als Rucksack titulierst, noch weiter tragen muß.“ Ungerührt
las Mara weiter: „Trotz der enormen Baufälligkeit der alten Mauern
sind sie auch heute noch sehenswert.“ Verwundert betrachtete sie die
Mauern. „Also, ich finde, die sind alles andere als enorm baufällig,“
meinte sie, während sie heftig gegen die Steine der Mauer klopfte. Dann
las sie weiter: „Nur einige hundert Meter vom Haupthaus entfernt kann
der geneigte Besucher auch noch eine Reihe überaus gut erhalte-ner Statuen
besichtigen, die die Familie des ehema-ligen Besitzers darstellen.“ Mit
diesen Worten klappte Mara den Reiseführer zu, blickte sich um, erkannte
in einiger Entfernung eine Gruppe steinerner Figuren und lief zielstrebig los.
„Kennst du ei-gentlich überhaupt sowas wie Gnade?“
Patricias Gesicht nahm einen Ausdruck an, von dem man nicht eindeutig sagen
konnte, ob er einen Wut-anfall oder einen Heulkrampf einleiten sollte - aber
auch dieses Mal verhallten ihre Worte ungehört!
Ungefähr zehn Minuten nach Mara erreichte die leidgeprüfte Großstädterin
die Skulpturen, deren Anblick sogar sie sprachlos werden ließ, und ungewollt
entfuhr ihr ein bewunderndes „Wau!“.
„Sehen wahnsinnig echt aus, so als könnten sie dich jederzeit anlächeln
oder so! Findest du nicht?“
Wenige Augenblicke, in denen beide gemeinsam die Statuen betrachteten - sie
stellten ein älteres Paar, zwei jüngere Paare und einen jungen Mann
dar - vergingen, bis Patricia sich ihres Hungers und ihrer wundgelaufenen Füße
erinnerte. Sie setzte sich wortlos, ein für sie durchaus bemerkenswerter
Zustand, ins Gras, öffnete ihren Rucksack, suchte darin herum, entschied
sich für ein Butterbrot und begann zu essen. Diesmal war es an Mara, sich
zu wundern: „Aber wir haben doch erst gefrühstückt,“
meinte sie und sah unverwandt zu ihrer Freundin, so als erwarte sie augenblicklich
Antwort. Nachdem Patricia fertig gekaut hatte, erwiderte sie gereizt: „Das
war mitten in der Nacht, als eine Wahnsinnige mein Zimmer stürmte, mich
meinem Bett entriß, etwas von schon sechs Uhr und kleiner Spaziergang
für die Gesundheit murmelte und mich zum krönenden Abschluß
dazu gezwungen hat, ihr in die Wildnis zu folgen und ein bißchen Halloween
- Horror, den ich nebenbei lieber heute gegen Abend am Kamin genossen hätte,
live zu erleben!“
Mara konnte nicht mehr anders, sie mußte lachen. Sie setzte sich neben
ihre Freundin ins Gras und, als wolle sie ein Friedensangebot machen, begann
auch sie, etwas zu essen. Plötzlich hielt sie inne und deutete auf die
Statue des jungen Mannes. „Fällt dir nichts auf?“. „Hmh...
nicht so direkt...vielleicht... nein, nein eigentlich sieht er für mich
aus wie eine normale Statue, wenn auch eine sehr gut gemachte.“ „Na,
dann sieh dir doch mal die anderen an! Immer noch nicht?“ Patricia drohte
Mara mit erhobenem Butterbrot: „Nun sag schon endlich, was du meinst!
Oder ist dieses Training meiner Beobachtungsgabe auch noch ein kostenloser Bestandteil
meines Erholungsurlaubs?“
Mara setzte eine äußerst gewichtige Mine auf. „Alle Skulpturen,
außer der des jungen Mannes, stellen Paare dar, trotzdem steht auch er
auf einem sehr breiten Sockel, so als solle noch eine weitere Person neben ihm
Platz finden.“ Patricia grinste höhnisch. „Na, dann stell
dich doch einfach daneben...“, was auch immer sie noch hatte hinzufügen
wollen wurde von lautem Donnergrollen verschluckt. Einen Moment später
zuckte ein gewaltiger Blitz zur Erde und schlug unmittelbar zwischen Mara, Patricia
und den Statuen ein. Erschreckt blickten die beiden sich an. „Wo zum
Teufel kommt denn bei diesem schönen Wetter ein Gewitter her, hmm?“.
Schweigend deutete Mara nach oben. Schwarze Wolken verdun-kelten den Himmel
und ein stürmischer Wind begann zu wehen. „Ich bin wahrlich nicht
abergläubisch,“ Patricias Stimme hatte enorm an Intensität
verloren, „aber mußtest du uns unbedingt nach Lightning Heights
bringen? Ich meine, der Name spricht doch schon Bände, hätte es nicht
ein Ort sein können, in dessen Name Bienchen oder Blümchen oder irgendwas
Harmloses und furchtbar Nettes vorkommt?“
Wieder donnerte es, nur diesmal viel näher. Im glei-chen Augenblick blitzte
es abermals, und schwere Regentropfen begannen zu fallen. „Los komm,
wir sollten uns ganz schnell irgendwo verkriechen, am besten im Haus, sonst
trifft uns noch der Blitz, und ich halte die Vorstellung einfach nicht aus,
mir im Jenseits jahrhundertelang dein Gemecker anhören zu müssen.“
Mara griff unmutig nach ihrem Rucksack und rannte los, ohne sich auch nur andeutungsweise
für eine eventuelle Antwort ihrer Begleiterin zu interessieren.
Als
die beiden Frauen das Hauptgebäude von Lightning Heights erreichten, hatte
das Unwetter ungeahnte Ausmaße angenommen. Obwohl es erst später
Vormittag war, hätte man glauben können, es sei bereits stockfinstere
Nacht. Der Sturm peitschte den Regen über die Ebene und die Tropfen stachen
wie feine Nadeln in Maras und Patricias Gesicht. Es kam Mara wie eine Ewigkeit
vor, bis sie endlich an die stabile, hölzerne Tür gelangten, die ein
wenig Schutz vor dem Sturm zu bieten schien. In der Hoffnung, gehört und
eingelassen zu werden, begannen sie gleichzeitig mit den Fäusten gegen
das Holz zu hämmern, doch es öffnete ihnen niemand. Auch die Versuche,
die Tür gewaltsam zu öffnen, blieben erfolglos, so daß sich
die Freundinnen entschieden, nach weiteren Eingängen zu suchen.
Etwa fünfzehn Minuten später standen sie wieder am Ausgangsort ihrer
gescheiterten Suche. „Oh, mein Gott, wir müssen unbedingt hier weg,
zurück ins Dorf oder zu einem der Höfe, die wir unterwegs gesehen
haben, sonst werden wir uns eine Lungenentzündung holen oder erfrieren...“
„Ja, oder ertrinken! Du liebe Güte, Patricia, hör endlich
auf zu jammern. Glaubst du wirklich, daß wir bei diesem Inferno einen
der Höfe erreichen können, wo uns schon die simple Umrundung dieses
Hauses eine Viertelstunde aufgehalten hat? So weit ich mich erinnere, sind wir
vorhin vom letzten der Einsiedlerhöfe bis hierher ungefähr vierzig
Minuten gelaufen, bei wunderbarem Wetter, wie ich bemerken möchte!“
„Ich möchte, daß du meine sterblichen Überreste nach
England zu meiner Familie überführen läßt, solltest wenigstens
du dieses Desaster überleben!“
Bei diesen Worten war Mara rot angelaufen und obwohl sie fror, spürte
sie, wie ihr Gesicht glühte: „Also, jetzt reicht´s mir aber!
Was zuviel ist, ist zuviel! Die Freundin, die ich mit in Urlaub genommen habe,
war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und noch dazu ein interessanter, wenn
auch etwas schwieriger Mensch! Und jetzt sitzt ein hilfloses, nasses, weinerliches
Etwas vor mir, das sich über-dies noch zum ausgemachten Motzkoffer entwickelt
hat! Statt dich in Selbstmitleid zu baden könntest du deinen Grips eventuell
dazu verwenden, um zu überlegen, wie wir diese Situation ....“
Maras Strafpredigt wurde durch ein lautes Knarren unterbrochen. Erstaunt registrierten
die beiden, daß die Tür sich geöffnet hatte.
„Tretet ein!“
Die Stimme schien von weit her zu kommen. Mara und Patricia zögerten einen
Moment, doch dann folgten sie der Aufforderung. Nachdem sie eingetreten waren,
schloß sich die Tür wie von selbst und es dauerte einen Moment, bis
sich ihrer Augen an das seltsame Zwielicht im Innern gewöhnt hatten, doch
was sie dann sahen, versetzte sie in großes Erstaunen. Sie standen in
einer Art Halle, die von drei siebenarmigen Kerzenleuchtern in ein dumpfes Licht
getaucht wurde. Der Boden bestand aus Marmor und die Wände waren mit sehr
dunklem Holz getäfelt. Etwa in der Mitte des Saales stand, auf der untersten
Stufe einer Freitreppe, die aus hellerem Holz gefertigt worden war, in majestätischer
Pose eine in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt. Mara kniff die Augen
zusammen, um ihr Gesicht zu erkennen, aber es gelang ihr nicht.
„Seien Sie meine Gäste, bis der Sturm sich gelegt hat!“
Die Stimme ließ Mara erschauern, und als ginge es ihr ebenso, flüsterte
Patricia ehrfürchtig: „Es ist ein Mann, die Stimme ist entschieden
zu tief für eine Frau!“ Mara nickte kaum merklich, ohne den Blick
von ihrem Gastgeber abzuwenden, der den Arm gehoben hatte und auf die nördliche
Wand der Empfangshalle wies: „Die rechte Tür führt Sie in ein
Gästezimmer, in dem ich trockene Kleidung habe bereitlegen lassen, und
hinter der linken finden Sie die Küche. Fühlen Sie sich in meinem
bescheidenen Heim wie zu Hause! Leider habe ich noch Einiges zu erledigen, so
daß Sie auf meine Gesellschaft werden verzichten müssen!“
Mit diesen Worten drehte der Mann sich um und schritt die Treppe hinauf; gebannt
blickten Mara und Patricia ihm hinterher, bis sie ihn schließlich im Dämmerlicht
aus den Augen verloren.
Nachdem sie trockene Kleidung angezogen hatten, fühlten sich Mara und
Patricia bereits erheblich wohler, und obwohl das Unwetter noch immer um Lightning
Heights tobte, hatte sich die Laune der Beiden erheblich gesteigert. Als sie
jedoch die Küche betraten, gerieten sie in Hochstimmung, genauer gesagt
geriet eher Patricia in Hochstimmung. Man hatte ein herrliches Mahl für
sie hergerichtet, über das Patricia auch sofort herfiel. „Denk nicht
zu lange nach“, wandte sie sich an Mara, die immer noch mit verblüffter
Miene in der Tür stand, „sonst eß´ich das Alles alleine
auf!“
„Woher hat er das gewußt? Ich meine, er konnte doch unmöglich
wissen, daß wir kommen würden! Und wer hat in so kurzer Zeit dieses
ganze Zeugs hergerichtet?“
„Ist doch völlig egal, wichtig sind die Vitamine und Mineralstoffe
usw., die wir nach diesem Fiasko dringend brauchen und die diese Köstlichkeiten
uns bieten.“
„Hast du seine Stimme gehört? Sie war unnatürlich tief und
kratzig, irgendwie hohl!“
„Sie war männlich, Mara, und vielleicht ein wenig heiser.“
Mara reagierte nicht, sondern starrte geistesabwesend aus dem Fenster. „Maaaraa!
Wach auf, dies hier ist das Paradies! Schau dich doch um, es ist alles wunderschön
hier!“ Langsam drehte Mara den Kopf in Patricias Richtung: „Nein,
es ist alles vollkommen hier, aber nicht wunderschön, sondern kalt!“
„Kind, Kind, Kind! Ist das noch dieselbe Frau, die mir vorhin diese
Strafpredigt gehalten hat? Nur weil heute Halloween ist, brauchst du doch nicht
so mißtrauisch zu sein. Komm schon, genieß das alles doch ein bißchen.
Schau, es ist doch romantisch hier: Kerzenschein, Gewitter und hervorragender
Rotwein. Du wirst unserem Gastgeber vermutlich gar nicht mehr begegnen und sowie
das Gewitter vorüber ist - und ich aufgegessen habe -, können wir
abhauen! Trink ein Glas Wein und es wird dir besser gehen.“
„Nun, vielleicht hast du recht, vielleicht sollte ich etwas essen, aber
Rotwein, nein danke. Du weißt, daß ich keinen Alkohol trinke!“
antwortete Mara. Patricia hob ihr Glas, kicherte und prostete Mara mit den Worten
„Auf alle Gesundheitsapostel und Körnerfetischisten“ zu.
Mara lächelte: „Blöde Kuh!“
Kurze Zeit nach dem Essen meinte Patricia, sie sei furchtbar müde und
müsse den am Morgen ver-säumten Schlaf nachholen. Sie zog sich ins
Gästezimmer zurück, und Mara folgte ihr. Während Patricia einschlief,
rückte sie sich einen Sessel ans Fenster und betrachtete die Blitze, die
immer noch unablässig um Lightning Heights zuckten. Mit der Zeit wurde
auch sie schläfrig. Als sie wieder erwachte, tobte das Unwetter noch immer.
Sie blickte auf ihre Uhr und stellte fest, daß sie volle acht Stunden
geschlafen hatte. Leise stand sie aus ihrem Sessel auf und ging zu Patricia
hinüber, die noch immer schlief. Sie rüttelte sie vorsichtig an der
Schulter. Verschlafen hob Patricia den Kopf. „Was soll das? Ist das widerliche
Gerumpel vorbei, müssen wir gehen?“
„Nein, das Unwetter ist nicht vorbei und somit können wir auch
nicht gehen, aber es ist schon zehn Uhr am Abend.“ Mara glaubte, Patricia
müsse genauso erstaunt reagieren wie sie selbst, aber im Gegenteil! Mürrisch
murmelte sie: „Oh, ganz toll, Zeit zum schlafen. Leg dich auch hin, Püppchen,
sonst bekommst du äußerst häßliche Falten unter deine
Samtaugen!“ Mit diesen Worten zog sie sich die Decke über den Kopf.
Resigniert wandte Mara sich ab. „Ich bin aber nicht müde!“
sagte sie mehr zu sich selbst als zu Patricia, nahm sich eine Kerze und flüsterte
entschlossen: „Auf geht´s zur Hausbesichtigung!“ Sie verließ
das Zimmer, durchquerte die Halle und erklomm die Stufen der Treppe, die ins
obere Stockwerk führte. Fasziniert lief sie von einem Zimmer zum anderen
und bewunderte das zweifellos wertvolle Inventar. Dem Hausherrn begegnete sie
nicht, aber sie verschwendete auch keinen Gedanken an ihn. Ihr besonderes Interesse
weckte die Ahnengalerie, die eigentlich nichts anderes war als ein langer ,
mit dickem Teppich ausgelegter Gang, zu dessen beiden Seiten Gemälde hingen.
Langsam schritt Mara den Gang entlang und betrachtete die Bilder; jede der auf
Leinwand gebannten Personen erkannte sie wieder. Zuerst erkannte sie das ältere
Paar, dann die beiden jüngeren und schließlich auch den jungen Mann,
der alleine auf seinem Sockel gestanden hatte. Erstaunlicherweise war er nicht
nur auf einem Gemälde abgebildet, sondern auf dreizehn. Ein Bild zeigte
ihn mit mehreren Hunden, ein anderes auf einem Pferd usw. Mara sah sich alle
Gemälde eingehend an. Als sie beim letzten angekommen war, sagte sie: „Wenn
du wirklich so ausgesehen hast, alle Achtung!“. Doch dann beendete sie
ihr Selbstgepräch mit den Worten: „Du hast sie ja wirklich nicht
mehr alle beisammen, Mara!“, drehte sich auf dem Absatz um und verließ
die Galerie, um sich dem letzten Raum zu widmen, den sie noch nicht besichtigt
hatte.
Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein muffiger Geruch entgegen.
Vorsichtig ging sie in den Raum und entzündete den Leuchter, der, wie in
den Räumen zuvor, direkt neben der Tür stand. Langsam wurde es heller
und Mara erkannte, daß sie sich in einer Bibliothek befand. Mit Ausnahme
einer Fensternische waren alle Wände mit Bücherregalen versehen. Vor
dem Fenster stand ein kleiner, verstaubter Sekretär. Begeistert wandte
sich Mara den Folianten zu, sie zog wahllos einige aus den Regalen und begann
in ihnen zu blättern. Von Astronomiebüchern bis hin zu alten Heil-
und Kräuterbüchern war alles vorhanden. Nachdem sie längere Zeit
gelesen hatte, beschloß sie, wieder zu Patricia zurückzukehren. Als
sie gerade den vorletzten Wälzer in eines der Regale zurückstellen
wollte, löste sich plötzlich ein Blatt und fiel zu Boden. Betroffen
hob Mara das Blatt auf, dann jedoch bemerkte sie, daß es sich dabei nicht
wie angenommen um eine Buchseite handelte, sondern um ein mehrmals gefaltetes
Pergament.
Neugier überkam sie und sie entfaltete ihren Fund. Der erste Abschnitt
des Schreibens war verwischt und unleserlich, und sie konnte ihn auch mit größter
Mühe nicht entziffern, so daß sie sich dem Rest der Aufzeichnung
widmete. Sie las:
„.......wie zum Hohn hat er mir Pergament und Tinte überlassen.
Nun ist es endgültig, das Böse hat obsiegt. Noch zwei Stunden, dann
ist es Mitternacht und er wird seine Drohung wahr machen und uns vernichten.
Unsere Seelen in Stein bannen, so sagt er.
.Jedes Mitglied meiner Familie hat er in ein anderes Zimmer gesperrt und in
tiefen Schlaf versetzt, nur mich hat er verschont. Er lächelte mich höhnisch
an und meinte, ich solle die Familienchronik schreiben oder den Fluch auf Pergament
bannen, sollte ich Hoffnung auf Erlösung haben. Wenn ich mich recht erinnere,
waren seine Worte: „Wenn an Hallowmass eine Frau den Einen aus vielen
erkennt und zu ihm spricht AN DEINER SEITE WILL ICH STEHEN; so ist sie verloren
und doch mit euren Seelen befreit.“
Mara starrte wie betäubt auf das Blatt in ihrer Hand. „Die Galerie“
schoß es ihr durch den Kopf, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer
Schulter bemerkte. Eine tiefe, kratzige Stimme sagte: „Wie schön,
daß sich einer meiner Gäste für alte Handschriften interessiert!
Nettes Märchen, nicht wahr?“ Mara zuckte zurück. „Woher
wissen Sie, was auf diesem Blatt steht?“
„Lassen Sie uns ein Glas Wein trinken, dann werde ich Ihnen alles erklären.“
Seine Stimme klang jetzt fast freundlich.
„Tut mir leid, ich bin Antialkoholikerin,“ erwiderte Mara, mit
einem Blick auf ihre Uhr, die vier Minu-ten vor Mitternacht zeigte, und schob
sich an ihrem Gastgeber vorbei.
„Bleib stehen!!!“ Die Worte, die fast wie ein gewaltiger Donner
klangen, verströmten eine eisige Kälte. Mara reagierte nicht, sondern
begann zu rennen.
Ein Donnern weckte Patricia, verärgert verdrehte sie die Augen, doch dann
hörte sie Mara schreien. Es klang so entsetzlich, daß Patricia sich
augenblicklich in Bewegung setzte. Die Schreie hatten aufgehört, trotzdem
rannte Patricia in ihre Ursprungsrichtung. Sie traute ihren Augen nicht, als
sie die obere Etage erreichte. Dort hing Mara mit zu Schrei geöffneten
Mund in der Luft, umhüllt von einer grünlich phosphoreszierenden Wolke.
Hinter der Wolke stand mit geschlossenen Augen ihr Gastgeber und murmelte seltsame
Formeln. „Verfluchte Schande, diese elende Romantikerin hatte recht,
hier ist was oberfaul“ dachte sie, während sie einen der Leuchter
ergriff. Mit einem lauten: „Jetzt gib´s was auf die Mütze,
du Guru!“ stürzte sie sich auf ihren Widersacher. Sie holte aus,
schlug und traf, die schwarzgewandete Gestalt sackte zusammen und die Wolke
um Mara verschwand. Diese drückte Patricia einen Fetzen altes, vergilbtes
Papier in die Hand und stürmte in den Raum, in dessen Türe sie stand.
In Windeseile las Patricia und begriff, dann folgte sie hastig ihrer Freundin.
„Aber welcher ist es?“ fragte sie, als sie bei Mara angelangt
war. „Der zweite von rechts. Er steht so da wie die Statue, so als solle
noch jemand neben ihm stehen.“ Sie stellte sich vor das Bild. „Bist
du dir ganz sicher, daß du es versuchen willst?“. „ Ja,
ich bin sicher“, antwortete Mara, und dann sagte sie: „An deiner
Seite will ich st.....“ Sie wurde von einem haßerfüllten „Nicht
so schnell“ unterbrochen. Der Magier stand in der Tür und lächelte
siegessicher. „Du kleine, räudige Katze wirst mir mein Werk nicht
zerstören!“ Ein Blitz zuckte aus seinen Händen und schoß
auf Mara zu. Patricia handelte instinktiv.
„Wir befinden uns hier auf den Besitzungen von Lightning Heights. Trotz
ihrer Baufälligkeit sind die alten Gemäuer auch heute noch sehenswert.“
Wie zur Bestätigung klopfte die Frau, die die Reisegruppe führte,
an eine der Mauern, die auch wie auf Befehl zu bröckeln begann. „Muß
mal ein sehr schönes Haus gewesen sein!“ warf ein Mitglied der Reisegruppe
ein.
„Die Sage berichtet, daß der Name dieses Ortes von einem schier
unglaublichen Gewitter hergeleitet wird...“
„So eines wie letzte Nacht?“.
„So in etwa, nehme ich an. Jedenfalls“, so fuhr sie fort, „behaupten
ältere Bewohner dieser Gegend ernsthaft, daß ein Zauberer das Unwetter
heraufbeschworen habe, um die Besitzer dieses Anwesens zu vertreiben und dieses
Fleckchen Erde so für seine finsteren Machenschaften nutzen zu können.
So, nun bitte ich Sie, mir zu der äußerst sehenswerten Statuengruppe
zu folgen, die Sie dort drüben zwischen den Bäumen erkennen können.
Wenn sich alle eingefunden haben, werde ich meine Erläute-rungen fortsetzen.“
Langsam liefen die Mitglieder der Gruppe los; nur zwei oder drei Neugierige
drangen durch das Loch, das einst eine Tür gewesen sein mußte, in
das Innere des Gemäuers ein, um ein wenig darin herumzustöbern. „Sieh
mal hier, auf die gleiche Idee wie wir muß vor gar nicht langer Zeit schon
einmal jemand gekommen sein“, wandte sich Owen an einen seiner Freunde,
„und dabei hat er seinen Mantel hier verlo-ren!“
„Ist wohl eher ´ne Kutte!“ erwiderte Jack.
Mittlerweile waren die anderen Teilnehmer des Ausfluges bei den Steinfiguren
angelangt. Miss Honeycut stellte sich mit dem Rücken zu den Statuen und
erklärte: „Die Statuen stellen die Mitglieder der Besitzerfamilie
von Lightning Heights dar. Ganz hinten erkennen sie ein älteres, in Stein
gehauenes Paar, vermutlich die Eltern. Davor sehen sie zwei jüngere Paare
und einen einzelnen Jungen Mann...“ Allgemeines Gelächter unterbrach
die Sprecherin. Verwirrt sah sie in die Richtung der genannten Statue, auf die
einige Finger wiesen. „Oh, da muß ich mich bei den Recherchen vertan
haben,“ entschuldigte sie sich und betrachtete kopfschüttelnd die
Statuette eines dritten jungen Paares, das sich lächelnd an den Händen
hielt und zu dessen Füßen eine kleine, räudige, aber äußerst
lebendige Katze kuschelte, die kläglich dreinschaute.
Als die Reisegruppe ihre Besichtigung von Lightning Heights beendete, war die
Katze immer noch da, und Owen entschied sich, sie mitzunehmen. Behutsam nahm
er sie auf den Arm, sie schnurrte. Als er sie jedoch absetzte, weil ihm der
Arm lahm wurde, verzog sie das Gesicht und begann zu miauen; es klang als wollte
sie sich beschweren. Aber als er sich nicht weiter darum kümmerte, folgte
sie ihm.
von Berit Knerr
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