Die Nacht senkte sich allmählich auf Tantras herab. Dünne Nebelschleier
hingen in den Gäßchen der Hafenstadt und verzauberten die Fronten
der mächtigen Händlergebäude in der Einbildungskraft des Betrachters
zu phantastischen Schlössern oder Burgen. Hier und da brannte Licht hinter
den Bleigläsern der Häuser, einzelne Kamine spien dicke Rauchfahnen
aus und die letzten Bürger machten sich schnell auf den Weg nach Hause.
Die Nachtwächter entzündeten die Laternen und ließen ihre üblichen
Stundenrufe durch die Straßen hallen. Silbrig schimmerte der volle Mond
in die nun verlassenen, ruhigen Sträßchen.
Die Zeit der Diebe war soeben angebrochen.
*
Enidane huschte über die Straße, flankte über einen kleinen
Holzzaun und sprang mit einem Satz in das Gebüsch im Vorgarten des Gebäudes.
Sie verharrte, ohne sich auch nur einen Fingerbreit zu rühren, und lauschte
auf verdächtige Geräusche aus ihrer Umgebung. Doch es blieb alles
still, und erleichtert entspannte sie sich ein wenig.
Die junge, elfische Diebin arbeitete für Thil Ensron, der wiederum das
seriöse Geschäft der Sicherheitsüberprüfung tätigte.
Der betagte Meisterdieb hatte sie damals bei dem kläglichen Versuch eines
Einbruchs in sein eigenes Haus erwischt, sie aus der installierten Seilfalle
befreit und sich derart köstlich darüber amüsiert, daß
er sie unter seine Fittiche genommen und richtig ausgebildet hatte, bevor ihre
zierlichen Hände das Opfer eines Gardistensäbels geworden wären.
Als Dank für die Unterweisung verpflichtete die sich Elfin ihrerseits,
das Erlernte und ihr Wissen niemals an die ansässigen Diebesgilden weiterzuverraten
und für Thil Ensron die Überprüfungen vorzunehmen.
Die Kunden, die ihr Mentor betreute, galten in den Stadtkreisen als die reichsten
oder mächtigsten Menschen, die ihr Hab und Gut oder ihr Leben wirklich
sichern mußten. Sie alle engagierten Ensron für teures Geld, damit
er mit Hilfe seiner Diebin die Schutzanlagen ausprobierte. Enidane verdiente
hierbei soviel Gold, wie sie auf ihren vorherigen Raubzügen niemals ergaunert
hatte, zumal sie das Gleiche wie früher tat, nur eben diesmal legal. Sollte
sie bei ihrer Arbeit von der Garde erwischt werden, führte sie einen Ausweis
mit sich, den Thil vom Chef der Wache anfertigen ließ, um die Elfin davor
zu bewahren, eine unangenehme Nacht im Kerker zu verbringen, bis sich die Sache
zu ihren Gunsten geklärt hatte. Sie zog es allerdings vor, nicht von den
pflichtbewußten Soldaten Torms geschnappt zu werden. Irgendwo in ihr ging
das gegen die Ehre.
Heute Nacht würde sie versuchen, in den Turm des Gelehrten Olgart des
Zweiten einzusteigen und als Beweis dafür, daß sie es geschafft hatte,
einen Edelstein aus der Sammlung des Mannes mitnehmen. Enidane vergewisserte
sich, daß wirklich niemand zum Anwesen des Gelehrten sah und ging vorsichtig
im Schatten der Bäume zu der hölzernen Eingangstür. Dort angekommen,
kniete sich die Elfin hin und blickte prüfend auf das Schloß.
Was sie sah und bemerkte, gefiel ihr überhaupt nicht. Wie alle Elfen war
auch sie magisch begabt und fühlte, als sie leicht mit den behandschuhten
Fingern über das Metall strich, ein leichtes Kribbeln, das sich auch einstellte,
als sie probeweise über die Türangeln fuhr. Gegen Schlösser dieser
Art, die garantiert von einem begnadeten Schlosser und einem noch begnadeteren
Zauberer hergestellt worden waren, konnte sie mit ihren Illusionssprüchen
nicht viel ausrichten. Und die Zeit, ein Loch in die Tür zu sägen,
hatte sie nicht.
Enidane wußte, daß der Turm knappe 27 Fuß hoch war und in
21 Fuß Höhe ein Fenster besaß. Das Dach bot einem Wurfhaken
im Notfall genügend Halt, sodaß ein Einstieg durch das Fenster keineswegs
abwegig erschien, auch wenn es ihr nicht behagte. Die Diebin schlich zurück
in den Schutz der Bäume und nahm die nötigen Ausrüstungsgegenstände
aus dem schwarzen Rucksack. Schnell klappte sie den Wurfhaken auseinander, knotete
das Seil am hinteren Ende fest und verzurrte ein Stück Seil an ihrer Einbrecherkoppel.
Danach machte sie sich mit einem Spruch unsichtbar, um nicht im hellen Mondlicht
in den schwarzen Diebeskleidern an der Mauer wie ein riesiger, unübersehbarer
Fleck zu wirken.
Mit einer geübten, kraftvollen Bewegung beförderte Enidane den Wurfanker
auf das Dach, dessen Widerhaken glücklicherweise sofort griffen und selbst
nach einigen Rucken und Reißen der Elfin am Seil nicht nachgaben. Sie
stellte es sich als äußerst unangenehm vor, aus 25 Fuß vor
die Füße des Besitzers oder einer Stadtwache zu stürzen.
Die Diebin arbeitete sich verbissen nach oben, wobei sie alle drei Fuß
das Seil in einer Schlaufe des Einbrechergeschirrs sicherte, um im Falle eines
Ausrutschers nicht zu stürzen. Endlich hatte sie das einzigste Fenster
erreicht und gönnte sich eine Pause, um sich auszuruhen und die schlafende
Stadt zu betrachten, die so friedlich von hier oben wirkte. Nach ein paar Minuten
Erholung, suchte Enidane das passende Werkzeug aus den Taschen hervor und begann.
*
Bleigläser, so hatte sie von Thil Ensron gelernt, schlägt man nicht
ein, da sie zu dick sind und einen Heidenlärm machen. Also löst man
das Problem auf die elegante Art. Sie bestand darin, daß man den Glasschneider
fachgerecht einsetzte, und genau das versuchte die Elfin.
Routiniert setzte sie in der rechten, oberen Ecke an und zog den geschliffenen
Diamanten mit leichtem Druck aus dem Handgelenk den Rahmen entlang nach unten.
Leise knirschend glitt die funkelnde Spitze über das Glas, hinterließ
aber keinen Kratzer, wie sonst üblich.
Die Diebin runzelte die Stirn, setzte erneut auf und verstärkte die Kraft
auf den Diamant. Aber nichts tat sich. Vorsichtshalber befühlte sie die
Scheibe, ob sie eventuell magisch gesichert gewesen wäre, doch das zuvor
an der Tür gespürte Kribbeln blieb aus. Enidane blickte etwas verwirrt
und wiederholte den Versuch ein drittes Mal, wobei sie sich mit all ihrem Gewicht
gegen den Glasschneider stemmte, aber auch diesmal ohne Erfolg.
Fluchend legte sie Teerpapier über die Scheibe und hieb mit der geballten
Faust zu. Nur mühsam konnte sie den Schmerzensschrei unterdrücken
und stöhnte stattdessen leiderfüllt. Dann griff sie nach dem Hammer
an ihrer rechten Seite. "Du wolltest es unbedingt so haben!" murmelte
Enidane und schlug mit aller Wucht auf das Glas. Das Metall des Hammerkopfes
federte zurück, ohne Schaden anzurichten. Der Gesichtsausdruck der Elfin
wechselte von siegessicher- erwartungsvoll auf überrascht- wütend.
Sie ignorierte die mahnende Stimme ihres Mentors im Hinterkopf und drosch wild
drauf los, bis der Arm müde wurde. Das Teerpapier hing in Fetzen an der
Scheibe herab, ansonsten blieb alles beim alten.
Die Diebin lauschte gespannt, ob in der Nachbarschaft auf ihr Getrommel hin
etwas passieren würde, aber anscheinend war man dort an seltsame Geräusche,
die vom Turm stammten, gewöhnt.
Enidane versuchte nacheinander mit Hammer und Meißel, mit Hammer und
Diamant und mit ihrem Dolch diesem Monsterfenster irgendwie beizukommen, doch
ihre schweißtreibenden Bemühungen wurden nicht belohnt. Das Säurefläschchen,
mit dem sie den Rahmen zersetzen wollte, rutschte ihr vor lauter Wut aus den
Fingern und zerschellte am Fuße des Turms. Sie pendelte in 21f Höhe
und kam sich langsam reichlich dämlich vor. Was zum Henker hatte dieser
verrückte Gelehrte mit dem Glas angerichtet, daß selbst rohe Gewalt
und der Diamant daran scheiterten? Auf alle Fälle verstand die Elfin diese
Sache als persönliche Herausforderung ihrer Fähigkeiten, die sie nicht
einfach mit einem Schulterzucken abtun wollte. Es wäre das erste und einzige
Mal, daß sie Thil Ensron gestehen müßte, ein perfektes Sicherheitssystem
gefunden zu haben. "Aber nicht in diesem Leben!" fauchte Enidane gereizt.
Mit beiden Füssen stemmte sie sich gegen die Turmwand und drückte
sich schwungvoll ab. Mit den Stiefeln voran raste sie auf das verhaßte
Fenster zu und schloß die Augen. Der Stoß, den sie bekam, als sie
und die Scheibe zusammenprallten, ging ihr durch und durch. Die Diebin rutschte
auf dem immer noch intakten Glas weg, schlug gegen die Mauer und drehte sich
mehrmals um die eigene Achse, bis sie rettungslos im Seil verheddert war und
sich erst nach einiger Zeit befreien konnte.
Nach dem dritten Versuch, auf diese Weise das Fenster zur Kapitulation vor
dem überlegenen Verstand zu bewegen, passierte ein weiteres Malheur. Der
Wurfhaken, offenbar überansprucht durch Enidanes ständige Herumschwingerei,
quittierte den Dienst und löste sich von seinem Halt auf dem Dach. Mit
resigniertem Seufzen stürzte die Elfin 21f in die Tiefe und tat sich beim
Aufschlag mächtig weh, trotz ihren guten turnerischen Fähigkeiten.
Einem normalen Menschen hätte dieser Sturz unter Umständen das Leben
gekostet.
Nach dem Aufprall blieb Enidane ersteinmal liegen und fühlte sich unendlich
müde. Dann stemmt sie sich langsam und mühsam hoch, begann den Wurfhaken
für einen weiteren Einsatz vorzubereiten und schleuderte das Eisen zurück
auf das Dach des Turmes. Ihren Schmerzen nach zu urteilen, die sie im ganzen
Körper spürte, hatte sie sich so ziemlich alles geprellt, was sich
ein Elf zu prellen imstande war, aber glücklicherweise nichts gebrochen.
Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen kletterte sie wieder hinauf
bis zum Fenster und starrte auf das heimtückische Glas. Fieberhaft überlegte
sie, wie sie diesem Stück geschmolzenen Sand beikommen konnte, kam jedoch
zu keiner Lösung. Die Diebin wollte sich gerade abseilen und aufgeben,
als ein Leuchten über ihr Gesicht ging. Sie schalt sich selbst eine Närrin,
daß sie nicht früher darauf gekommen war und strafte die Scheibe
vor sich mit einem verachtenden Blick. "Du wirst mir gleich garantiert
keine Schwierigkeiten mehr bereiten, Miststück!"
*
Thil Ensron sah verblüfft auf den schillernden Edelstein, den seine Schülerin
Enidane soeben vor ihn triumphierend auf den Tisch gelegt hatte. Neben ihm starrte
Olgart der Zweite noch verblüffter abwechselnd auf den Stein und die Elfin,
die vor drei Minuten in zerschlissener, schwarzer Kleidung und zahlreichen Blessuren
am ganzen Körper den Besprechungsraum Ensrons betreten hatte. "Ohne
Zweifel!" rief der Gelehrte erstaunt. "Das ist ein Edelstein aus meiner
Sammlung! Aber wie seid ihr in meinen Turm gelangt?!" Die Diebin setzte
sich erschöpft und lächelte müde. "Mein Kompliment an euch,
Olgart. Die Tür ist für einen Durchschnittsdieb nahezu unüberwindlich.
Wer hat sie euch gebaut? Es ist wirklich erstklassige Arbeit gewesen."
Sie grinste. "Und das Fenster ist ebenso sicher. Schaut mich an, wie ich
aussehe! Tymora allein weiß, was es mich gekostet hat, die Scheibe zu
überlisten."
Olgart der Zweite sah sie mißtrauisch an. "Aber das ist unmöglich!
Ich selbst habe sie mit einer Spezialflüssigkeit behandelt, die sie unzerbrechlich
werden läßt." Enidane nickte freundlich. "Ganz recht, edler
Herr. Aber ihr solltet den Einfallsreichtum eines wütenden und provozierten
Diebes niemals unterschätzen. Sie sind dann zu vielem fähig, müßt
ihr wissen." Olgart wehrte mit mißmutigem Gesicht ab. "Hört
auf zu schwafeln und sagt mir endlich, wie ihr es geschafft habt! Das Glas ist
doch unzerstörbar!"
Wieder neigte die Diebin den Kopf und hob den Zeigefinger. "Ganz recht!
Das Fenster ist unbeschädigt geblieben. Da ich irgendwann genug von eurer
Zauberscheibe hatte, suchte ich einen anderen Weg." Draußen setzte
heftiger Regen ein. "Oh! Und wenn ihr euer Labor halbwegs retten wollt,
müßt ihr euch beeilen, Olgart. Ihr müßt wissen, daß
mir nichts anderes übrig blieb, um in euren Turm zu gelangen, als das Dach
teilweise abzudecken!"
Der Gelehrte wurde blaß. "Ihr habt was getan?!" Enidane versuchte,
unschuldig dreinzusehen. "Es hieß, ich solle mit allen Mitteln versuchen,
in das Turminnere zu gelangen. Ich denke, es ist mir gelungen, oder!?"
Olgart der Zweite grummelte etwas Unanständiges durch die Zähne, raffte
ein langes Gewand und hastete zum Ausgang. "Ich hab leider keine Zeit mehr,
Thil, dank eurer Mitarbeiterin. Ich spreche euch noch wegen dem Lohn und der
Entschädigung, die ich von euch verlangen werde. Gute Nacht!" Laut
schlug er die Tür hinter sich zu.
Ensron sah sie Diebin lange und eindringlich an, ohne ein Wort zu sagen, worauf
sie ihm nach einer Weile zögernd einen Zettel reichte. "Das ist die
Formel für diese ekelhafte Flüssigkeit, mit der er die Scheiben unzerbrechlich
machen kann. Sie blieb zufällig in meiner Hand hängen." Die Elfin
räusperte sich verlegen und blickte an die Decke.
Ihr Mentor überflog die Seite kurz. "Das sieht zu kompliziert aus,
um es sich merken zu können. Sehr gut!" Er zerknüllte das Papier
und beförderte es in die dunkelroten Flammen des Kamins. "Nicht, daß
ich gegen die Sicherheit der Häuser wäre, aber wir wollen die Einbrecher
dieser Stadt doch nicht verhungern lassen, nicht wahr, Enidane!?" Sie lachte
und gab ihm eine Kuß auf die Wange. "Was würden die Diebe von
Tantras nur ohne dich machen, Thil?" "Ehrliche Arbeit, vermutlich."
entgegnete der alte Meisterdieb verschmitzt und strich sich zufrieden über
den Bart.
Markus H.
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