1.12.
Merkwürdige Dinge gehen vor sich. Menschen, die ich bislang gut zu kennen
glaubte, haben sich auf erschreckende Weise verändert- sie tragen mit einem
Mal lange Mäntel und Sonnenbrillen und brechen Gespräche mitten im
Satz ab, um einem ebenfalls manteltragenden Neuankömmling zuzuraunen, „Ich
hab sie dabei“. Daraufhin verschwinden beide in einem öffentlichen
Waschraum oder einem Wandschrank und kommen für die nächsten paar
Stunden nicht mehr zum Vorschein.
Was ist los? Ich glaube, ich sollte mich darum kümmern.
5.2.
Es wird immer schlimmer. Nun scheint es auch C. erwischt zu haben. Als ich
ihn besuchte, kniete er mit glitzernden Augen vor einem Häuflein am Boden,
das er auf der Stelle unter seinem Trenchcoat versteckte, als er mein Eintreten
bemerkte. Es gelang mir dennoch, einen flüchtigen Blick darauf zu werfen...
sah ganz so aus wie ein Stapel Spielkarten. Das macht keinen Sinn, oder? Keinen
Sinn machte auch, daß jedes zweite Wort, das C. an diesem Tag von sich
gab, entweder „Manna“ oder „Täppen“ war.“Manna“
ist, glaube ich, so etwas wie Wackelpudding, aber „Täppen“?
Ich habe Angst.
Vielleicht sollte ich einen Parapsychologen aufsuchen.
15.3.
War bei T., dem Parapsychologen. Kaum, daß ich die Praxis betreten hatte,
winkte T. mich schon in sein Zimmer.
„Psst,“ flüsterte er , „ich muß dir etwas zeigen,“
und stieß mir ein Engelsbildchen ins Gesicht. Ich griff danach, aber mit
einem wütenden Aufschrei riß er das Ding aus meinen Fingern. „Nicht
anfassen,“ zischte er, „die gebe ich nicht her!-Das ist eine seltene
Magic- Karte,“ fügte er erklärend hinzu, als er meinen verständnislosen
Blick bemerkte, und da wurde mir plötzlich klar, daß T. über
die merkwürdige Epidemie sehr gut Bescheid zu wissen schien... also fragte
ich ihn.
Jetzt weiß ich alles.
Magic
ist ein „Spiel“, bei dem man sich durch das Zeigen häßlicher
Bilder (von Orks, Pilzen, Feuer-bällen, Hummern...) gegenseitig zu Tode
zu erschrecken versucht („Verlust von Lebenspunkten“!). Die Bildchen
sind nicht ganz billig, und unglücklicherweise scheint der Suchtfaktor
des Spiels beträchtlich zu sein. Schwache Charaktere werden dadurch nur
allzu leicht in den finanziellen Ruin getrieben oder begehen gar Kapitalverbrechen,
um in den Besitz bestimmter Karten zu kommen...
„Kauf dir auch welche,“ zischte T., nachdem er seine Erläuterungen
beendet hatte, und öffnete seinen Mantel. Am Innenfutter hingen- hübsch
in Plastiktütchen verpackt- all die Glanzbildchen, von denen er gerade
berichtet hatte, und ich überflog sie mit kritischem Blick. Nachdem ich
mich ausreichend über sein Angebot informiert hatte, runzelte ich die Stirn.
„Da ist,“ stellte ich fest, „kein einziges Bild von einer
Kettensäge dabei.“
T. starrte mich entsetzt an.
„Bei Magic gibt es keine Kettensägen,“ schnaubte er empört.
„Keine einzige?“
Er schüttelte den Kopf und warf mir einen grimmigen Blick zu. Ich hatte
T. noch nie so ungehalten erlebt.
„Nicht einmal eine ganz, ganz kleine?“
T. verneinte.Von seinem Kinn tropfte Speichel auf den Trenchcoat.
„Was ist mit Panzern?“ wollte ich wissen. „Gibt’s
wenigstens Panzer?“
T. fletschte die Zähne und knurrte. Es klang irgendwie bedrohlich.
„Okay,“ sagte ich. „Spiele ohne Kettensägen will
ich nicht,“ und da sprang T. nach vorne und schnappte grollend nach meiner
Kehle. Daß ich noch lebe, habe ich bloß seinem Trenchcoat zu verdanken,
der sich bei dieser Aktion am Schirmständer verfing, und bei der anschließenden
Hatz quer durch die Praxisräume fingen irgendwie die Vorhänge Feuer.
Jedenfalls werde ich meine Geister in Zukunft selbst austreiben müssen.
3.5.
Vorhin hat S. angerufen. Er möchte mir unbedingt etwas zeigen, und diesen
Spruch kenne ich inzwischen nur zu gut. Seltsam, er weiß doch, daß
ich kein Magic- Junkie bin. Was mag er also wollen?
4.5.
Ich kann es immer noch nicht glauben: S. drückte mir einen Stapel Bildchen
in die Hand, die definitiv keine Magic- Karten waren. Ganz obenauf lag das Portrait
eines bösen Mannes mit drei Zapfen am Kopf, und ich war reichlich verwirrt.
„Doomtrooper“, sagte S. und meinte damit wohl den Namen dieses
„Spiels“. Ich zuckte die Achseln und blätterte weiter.
Auf der zweiten Karte war eine Kettensäge abgebildet.
Natürlich machte ich mir auf der Stelle in die Hose.
18.5.
V. hat inzwischen zweimal versucht, bei mir einzubrechen, aber der Stacheldraht
hat Schlimmeres verhindert. Warum mußte ich ihr aber auch erzählen,
daß ich so viele Karten mit Nephariten drauf besitze?
Ich denke, ich werde mir eine Schrotflinte kaufen müssen. Eine echte.
1.7.
Habe gerade mit der Bank telefoniert. Herr R. war sehr freundlich, aber bestimmt.
Es täte ihm leid, meinte er, aber er könne mir keinen Kredit mehr
geben.Ich werde seine Filiale wohl überfallen müssen. Mantel, Sonnenbrille
und eine Schrotflinte habe ich ja schon.
Nicole Oppermann
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