eschreibsel

M.I.A. - Teil II

Dramatis Personae:

Clemens Basler ein Biker
Sable eine Kammspinne
Herrmann ein Kind
Tommy Allen ein Boxer
Mutter Basler eine Kinderfreundin
Chrissie eine Arzthelferin
Kurt ein fetter Ordnungshüter
Lily eine Hure
Yasmine noch eine Hure
Shiva ein Raufbold
Melissa eine Tote
und noch ein paar Statisten wie z.B. Polizisten, Leichen, Tote und ein Sportwagenfahrer.



Sable hatte schon viele häßliche Dinge gesehen, aber die Szenerie vor Chicos Haus schlug alles bisher Dagewesene um Längen. Der größte Teil der halben Bratente, die er bei seiner Wette mit Clemens gewonnen hatte, verließ ihn schon direkt hinter der Absperrung, als er über einen schwarzgekleideten Toten - Kadaver stürzte, dessen Gesicht ihn irgendwie an ein Fraktal erinnerte. Den verdächtig alabasterfarbenen Clemens stellte er daraufhin zum Streifendienst ab; es genügte vollends, wenn nur einer von ihnen kotzte.

Die drei nächsten - im wahrsten Sinne des Wortes - Toten, die zwischen Chicos Wohnung und dem Grenadier auf dem Pflaster verstreut lagen, sah er sich gar nicht erst an; auch Eriksson befand sich noch an der gleichen Stelle im Rinnstein, an der ihn Sable zuletzt gesehen hatte.

Es war trotz Polizeisiegel nicht besonders schwierig, durch eins der zersplitterten Fenster in Chicos Haus einzusteigen; was Sable dabei allerdings schmerzlich vermißte, waren ein paar Nasenstöpsel. Das Licht der Straßenlaterne, das durch die Fenster ins Wohnzimmer schien, reichte zum Glück nicht aus, um Details zu erkennen, aber das, was er auf Anhieb sehen konnte, verdarb ihm auf Monate hinaus die Lust auf Splatterfilme.

„Du bleibst unten,“ befahl er dem Rest seines Nachtmahls, und „Reiß’ dich zusammen, Jake,“ sich selbst. Schließlich gab es noch eine Menge zu tun...

*

Amberton - Distrikt, Xolara, Solaris VII

Tamarind - Mark, Vereinigtes Commonwealth

19. Oktober 3052

Als Clemens aufwachte, war er zunächst einmal ziemlich desorientiert; seine Beine waren unter dem Servierwagen eingekeilt, sein linker Arm war taub, weil er darauf gelegen hatte, und ein Blick auf die Armbanduhr überzeugte ihn davon, daß es bereits Spätnachmittag war.

Clemens gähnte und streckte sich und sah sich in seinem Zimmer um. Tommy Allens Riesenfüße baumelten aus dem Bett, vor dem ein zerknittertes Vampirbuch lag. Der obstverschmierte Sessel war leer, und Herrmann befand sich vermutlich noch immer in Mutters Zimmer - dort, wohin sie ihn gebracht hatte, nachdem sie ihn Clemens gewaltsam entrissen hatte.

Clemens streckte sich noch einmal, hustete, kratzte sich am Kinn und erhob sich, um den Waschraum heimzusuchen; kaum hatte er die Tür geöffnet, hörte er Mutters Lachen aus der Küche.

„Das wäre aber nicht notwendig gewesen, Mr. Smith,“ kicherte sie gerade, woraufhin Clemens beschloß, doch zuerst in der Küche nach dem Rechten zu sehen. Das erste, was er erkennen konnte, war Sable, der mit hängenden Hosenträgern und hochgekrempelten Ärmeln Teller abtrocknete; Mutter saß am Tisch, teilte sich den letzten Rest Kuchen mit Herrmann und verschluckte sich, als sie ihre Leibesfrucht bemerkte.

„Bist du auch schon wach, Schatz?“ fragte sie mit vollem Mund. „Es ist noch Kaffee da. Mr. Smith hat freundlicherweise eine Kanne gekocht.“

„Tag, Clemens,“ rief „Mr. Smith“ erschreckend munter und trocknete seine Hände am Geschirrtuch ab. „Gut geschlafen? Würde mich wundern, so, wie du um dich getreten hast. - Ich hab’ mir übrigens vorhin deine CDs angeschaut. Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Du hörst Crusade, hehehehe. Das nenne ich wirklich schlechten Geschmack.“

Mutter kicherte, und Clemens spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß.

„Was,“ fragte er verärgert, „gibt es denn an Crusade, bitteschön, auszusetzen?“

Sable stellte ein paar trockene Teller ins korrekte Regalfach.

„Kleine, dicke Männer in Pelzunterhosen, die besingen, wie irgendwelche prähistorischen Steroidmonster Eidechsen mit Schwertern zerstückeln...mal ganz im Ernst, ich finde das infantil. Das ist Musik für fünfzehnjährige Mofafahrer mit riesigen Pickeln.“

Wieder kicherte Mutter, und Clemens holte tief Luft.

„Mir gefällt’s jedenfalls.“

Sable grinste breit.

„Tatsächlich? Ich mag Musik bloß dann, wenn sie keinen Text hat -oder wenn der Text in irgendeiner Sprache gesungen wird, die ich auch dann nicht verstehe, wenn ich mir die allergrößte Mühe gebe. Ehrlich gesagt interessiert mich nämlich überhaupt nicht, was irgendwelche prominenten Großkotze, die mit einem Tastendruck Millionen verdienen, zu sagen haben.“

„Das haben Sie aber schön gesagt,“ freute sich Mutter. Clemens hingegen knirschte hörbar mit den Zähnen.

„Ich geh’ jetzt duschen,“ knurrte er und schickte sich an, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen; wenn er noch länger in der Küche blieb, würde ihm garantiert schlecht werden!

*

Clemens sperrte seine Zimmertüre sorgfältig ab, und Tommy Allen, der im Lotussitz auf seinem Bett kauerte und damit beschäftigt war, einen Schoko-riegel zu öffnen, sandte ihm einen fragenden Blick.

„So,“ meinte Clemens zufrieden, „jetzt wird sie uns nicht mehr stören,“, und ließ sich in seinen gerei-nigten Lieblingssessel fallen. Sable, der sich den Fensterplatz mit zwei Dosen Bier und einer Plastiktüte teilte, zog die Brauen hoch.

„Ich weiß gar nicht, was du gegen deine Mutter hast.Sie ist äußerst zuvorkommend.“

Clemens knurrte.

„Du mußt ja auch nicht mit ihr zusammenleben,“ entgegnete er, was Sable zu einem Achselzucken veranlaßte.

„Du auch nicht. Immerhin bist du volljährig.“

Clemens, dem urplötzlich ein merkwürdig bekannter Geruch in die Nase stieg, schnupperte argwöhnisch. „Was ist denn das? Hier riechts ja wie im Puff!“

Sable zog beide Augenbrauen hoch. „Interessant, was du über dein eigenes Rasierwasser zu sagen hast. Ich habe mir erlaubt, es mitzubenutzen. Ist doch okay, oder? - Und nun zu uns beiden, Tom.“

Tommy spitzte die durch häufige Gewalteinwirkung deformierten Ohren. „Nun?“

„Chico, sein Fernseher, Thor, Kit und die beiden Kettels gehen eindeutig auf das Konto der Toten. Sie sind alle, alle tot. Und ich meine richtig tot. Was Taylor anbelangt-“

Sable legte seine Fingerspitzen zusammen und funkelte Tommy Allen an, der instinktiv den Kopf einzog und aufhörte, zu kauen.

„-so ist der wohl einem Baseballspieler zum Opfer gefallen.“

Tommy wurde zartrot.

„Bleibt nur noch Doc Delphi, und für den gilt: M.I.A.“

„Wie meinst du das?“ wollte Tommy wissen und schluckte den bis soeben im Mund aufbewahrten Bissen hinunter. Sable strich sich über den Bart.

„Rumgelegen hat er nirgends und in keiner Form, also ist er schon mal nicht tot, denke ich. Davon abgesehen hat er auch draußen weder Blutspuren hinterlassen noch einen Pfad aus Tabletten gelegt - kurz, er ist M.I.A. Missing in Action. Vermißt. Weg!“

Tommy runzelte die Stirn.

„Meinst du? Aber wie-“

„Die Polizei hat ihn bestimmt mitgenommen,“ unterbrach Clemens die Überlegungen des ehemaligen Superschwergewichtsboxers. „Ich meine, sie war ja sicherlich nicht nur am Tatort, um ihre Duftmarke zu setzen.“

Das war eigentlich alles, was er hatte sagen wollen, aber als er bemerkte, daß ihn zwei Augenpaare er-wartungsvoll anstierten, strich er sich nervös über das verfilzte Kinn und versuchte, seine Idee zu erläutern.

„Ja...ich denke...ich denke, wenn ich ein Bulle wäre und käme auf ein solches Schlachtfeld, und da wären ein paar Überlebende...also, ich würde sie mitnehmen, ehe sie abhauen können. - Ich meine, die Leichen können ja liegenbleiben, die kommen alleine meistens nicht mehr so weit...“

„Klar.“ Sable goß ein wenig Bier in Clemens’ Zahnputzbecher und schwenkte es wie Cognac. „Also haben ihn unsere uniformierten Freunde in Gewahrsam genommen. - Naja, damit hat sich der Block 5, soweit auf Solaris vertreten, auf drei Leute reduziert.“

„Du, ich und Doc,“ nickte Tommy.

„Nein, auf dich, mich und Herrmann. Vergiß’ ihn nicht, bloß weil er ein Kind ist. Doc Delphi ist jetzt aus dem Spiel.“

„Was,“ warf Clemens ein und deutete mit spitzem Finger auf den Zahnputzbecher in Sables Hand, „tust du da eigentlich?“

„Oh, weißt du, ich habe mich so sehr an abgestandenes Bier gewöhnt, daß ich die Kohlensäure eklig finde - Blödmann, ich will den Zahnpastageschmack da raus haben, wenn ich schon kein richtiges Glas kriege.“ Kopfschüttelnd verteilte Sable den Inhalt des Bechers an die Kakteen auf dem Schreibtisch, auf dem er seine Füße abgestellt hatte.Dann schenkte er sich aus der Dose ein.

„Wieso ist Doc Delphi aus dem Spiel?“ hakte Tommy Allen nach, dessen Gesichtsausdruck von Sekunde zu Sekunde unzufriedener wurde. „Er ist vielleicht im Knast, aber er ist immer noch unser Kumpel, und weil wir seine Kumpel sind, sollten wir ihn da rausholen!“

„Aus dem Knast?“ Sable verschluckte sich beinahe an seinem Bier. „Hör zu, Tom, Freundschaft ist etwas Schönes, und dein Sinn für Kameradschaft in allen Ehren, aber hältst du uns beide tatsächlich für fähig, jemanden aus dem Gefängnis zu befreien?“

„Ja,“ erklärte Tommy.

„Im Ernst?“

„Ja!“

„Heiliger Blake, du mußt noch blöder sein, als du sowieso schon aussiehst!“ Ungläubig starrte Sable den Boxer an, der unbeeindruckt zurückstarrte.

„Hör zu, Tom, wir sind gerade zwei Leute, und ich wage mal einfach zu behaupten, daß keiner von uns beiden ein strategisches Genie ist...oder auch nur der Ewige Krieger. Würdest du dich selbst nähen, falls dir etwas zustößt? Ich würde es nämlich nicht tun. Ich müßte bloß kotzen.“

„Wir müssen ihn da rausholen,“ nörgelte Tom, wäh-rend Clemens verlegen an seiner Bandana zupfte und so unsichtbar wie möglich tat.

„Wir müssen. Das erwartet er von uns. Und wieso sollten wir ihn nicht da ‘rauskriegen? Aus der Henry - JVA auf Somerset sind wir doch auch rausgekommen...“

„Ja,“ schnauzte Sable, „aber auch nur, weil zufällig alles, was in Staatsdiensten stand, damit beschäftigt war, eine planetare Clan - Invasion zurückzuschlagen - und weil irgendein Dilettant mit seinem Mech quer durch die Außenmauer in den Block 6 gefallen ist. Andernfalls säßen wir vermutlich heute noch dort und müßten Tüten kleben. Ein Hoch auf den Clan der Jadefalken, und mögen sie auf Somerset glücklich werden. Wenn sie Henry ein bißchen restaurieren, müßten sie einen prima Palast für ihre Bonzen daraus machen können. - Prost.“

Clemens biß die Zähne zusammen, als Tommy Allen den angebissenen Schokoriegel wütend auf den Flokatiteppich schleuderte.

„Du willst Doc Delphi also nicht helfen?“

Sable wischte sich ein wenig Bierschaum aus dem Gesicht.

„Du hast es erfaßt.“

„Kameradenschwein,“ zischte Tommy böse, woraufhin Sable wie gestochen von der Fensterbank hüpfte.

„WAS?“

„Verräter, elender! Du feige Sau! Du läßt deine Freunde wohl verdammt gerne im Stich, was?“

Während sich Clemens fragte, wie er möglichst schnell und unauffällig aus dem Zimmer gelangen sollte, färbte sich Sable langsam, aber unaufhaltsam violett. Er riß die Plastiktüte von der Fensterbank und machte einen Schritt auf das Bett zu, von dem aus ihm Tommy Allen in all seiner Pracht entgegenfunkelte.

„Was willst du damit sagen?“

Tommy zeigte ein paar krumme Zähne; es sah aus, als wolle er beißen, aber vermutlich war das seine Art, zu grinsen.

„Chico hat mal gesagt, daß du ihn und Thor und Taylor mit einer saublöden Aktion hinter Gitter gebracht hast, und daß sie nicht die einzigen Kumpels von dir waren, denen das passiert ist, und daß du giftiger bist als eine Kammspinne, und daß Sable ein guter Name für dich ist, weil Raubmarder genauso - äh - opportunistisch, aggressiv und zu jeder Schweinerei imstande sind wie du und weil sie jeden, der sie streichelt, anlachen und dann in die Finger beißen.“

„Das hat Chico gesagt?“fragte Sable perplex - nicht, daß er Grund gehabt hätte, daran zu zweifeln. Tommy Allen war viel zu blöde, um sich so etwas auszudenken!

Davon abgesehen entsprach es in Grundzügen der Wahrheit.

Aber auch nur in Grundzügen!

Tommy nickte, immer noch grinsend.

„JAAA! Als ich ganz frisch in den Block eingelie-fert worden bin. Und er hat gesagt, ich soll dich nicht mal beim Fernsehprogramm um Rat fragen, wenn ich unliebsame Überraschungen vermeiden will, und daß er dir nicht mal so weit trauen täte, wie er einen Kühlschrank werfen kann, wenn du ihm nicht mächtig was schuldig gewesen wärst-“

„Äh,“ warf Clemens ein, der jetzt allmählich um sein Mobiliar zu fürchten begann, „ich hatte zwar noch nicht allzu viel mit den Bullen hier zu tun, aber eins weiß ich sicher - sie bringen hier niemanden gleich in den Knast.“

Zwei Köpfe schnellten herum.

*

„Du hättest auch etwas Anderes klauen können,“ knurrte Sable. „Mußte es ausgerechnet ein Kabrio mit einem kaputten Verdeck sein?“

„Das ging am einfachsten,“ rechtfertigte sich Tommy Allen, der ausnahmsweise beim Fahren nach vorne sah.

„Es wird aber bald anfangen, zu regnen,“ meckerte Sable, „und wir werden alle elendiglich in diesem Autowrack ersaufen-“

„Raubmarder,“ zischte Tommy, und Clemens, der Schlimmeres verhindern wollte, stellte schleunigst eine Frage.

„Äh, wenn wir dort sind - was tun wir dann?“

„Nun ja...“ Sable drehte sich zu Clemens um, soweit es der Sicherheitshurt erlaubte. „Du sagst, diese Polizeiwache ist immer nur mit ein oder zwei Leuten besetzt?“

„Ich denke schon.“ Clemens strich sich über die filzigen Kinnhaare. „Ich war einmal zur Feststellung meiner Personalien dort und einmal wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit. In diese Station kommt normalerweise jeder zuerst einmal hin, der von der Polizei hier im Viertel aufgegriffen wird.- Jedenfalls waren beim ersten Mal zwei Bullen da, beim zweiten Mal einer. Da sind nur so’n paar Ausnüchterungszellen, weißt du, vier Stück, um genau zu sein, wo sie die Genossen bis zu drei Tagen lang behalten, um sie mürbe zu machen, bevor sie von der zuständigen Dienststelle abgeholt werden.“

„Viel mehr Zellen werden sie ja sowieso kaum brauchen, wenn die Toten die Straßen für sie sauberhalten,“ knurrte Sable, und Clemens tippte Tom auf die Schulter.

„Hey, jetzt mußt du rechts ranfahren, da vorne ist die Wache.“

Tom gab ein zustimmendes Geräusch von sich und kam Clemens’ Aufforderung nach. Der Wagen hielt.

„Was tun wir jetzt?“ fragte er und schnallte sich los.

„Wir könnten einen Notfall vortäuschen,“ schlug Clemens vor, „und dann-“

„Glaubst du im Ernst, daß die auch nur einem von uns einen Notfall abnehmen, so, wie wir aussehen - einem Langhaarigen, einem Skinhead und einem Boxer, der auch so aussieht wie ein Boxer?“

Clemens schüttelte seine bräunliche Löwenmähne.

„E-e.“

„Ich auch nicht. Allerdings würden sie uns sicherlich sehr gerne als Notfälle entsorgen. - Hat die Wache einen Hintereingang?“

„Ich glaube schon,“ glaubte Clemens. Sable zuckte die Achseln.

„Na schön. Dann wird Tom die Hintertür für uns aufbrechen. Wir beide gehen rein, überwältigen das Personal, sperren die Zelle auf, nehmen Delphi raus und fliehen.“

„Ein schöner Plan,“ freute sich Tommy. „Und was mach’ ich, wenn ich das Schloß aufgebohrt habe?“

„Du setzt dich ans Steuer und wartest darauf, daß wir wieder rauskommen.“

„Ich will aber auch mit rein,“ maulte Tom. Sable seufzte

„Hör zu, Tom. Irgendwer muß im Auto bleiben, damit wir schnell abhauen können, und damit er uns Bescheid sagen kann, falls draußen Verstärkung anrückt.“

„Dann soll er im Wagen bleiben,“ jammerte Tom und deutete mit dem Daumen auf Clemens. Sable, der Tom um nichts in der Welt hätte dabeihaben wollen, weil er nicht unbedingt ein Freund extremer Gewalttaten war, schüttelte den Kopf. „Er hat keinen Führerschein. Außer dir bleibt also niemand übrig.“

Tom öffnete den Mund, um etwas Unfreundliches zu sagen, aber er kam nicht dazu.

„Stop,“ befahl Sable. „Bevor du jetzt anfängst, zu weinen, weil dich keiner liebt und alle immer nur böse zu dir sind...hier.“ Er griff in die Plastiktüte und förderte etwas zutage, das aussah wie eine zu kurz geratene Maschinenpistole.

„Aus Chicos Keller, extra für dich. Paßt auch gut zu deinem Outfit. Ich dachte mir, daß du dich mit so etwas in der Tasche ein wenig wohler fühlen würdest.“

„Hey,“ freute sich Tom, „eine Urlan! Nettes Ding. Vielen Dank.“

„Bedanke dich bei der Polizei. Schließlich haben die alles so liegen und stehen lassen, wie sie es vorgefunden haben. Und, Clemens...“

„Ja?“ fragte der erwartungsvoll.

„Wenn du magst, habe ich einen Revolver für dich. Ist zwar nicht unbedingt das allerschickste Modell, aber wenn man hinten draufdrückt, kommt vorne etrwas raus, und das ist ja wohl der Sinn der Sache.“

Natürlich mochte Clemens den Trommelrevolver haben. Viel Erfahrung im Schießen konnte er zwar nicht aufweisen, aber er hatte im Grunde genommen auch nicht vor, das Ding zu benutzen.

„Munition ist in der Tüte. - Und wenn wir jetzt nicht da reingehen, werden wir noch morgen früh hier sitzen und frieren. Also los.“

*

„Ich hab’ so etwas noch nie getan,“ flüsterte Clemens. „Wieso wolltest du Tom nicht mitnehmen?“

„Weil ich erstens keine Lust darauf hatte, mich auch hier drinnen mit ihm in die Haare zu kriegen, und zweitens- ach vergiß zweitens. Sei lieber still.“

Clemens nickte und lauschte an der Klotür.

„Streich das Klo. Niemand drin.“

Sable kaute auf seiner Unterlippe herum.

„Bleiben das Dienstzimmer und der Zellentrakt...na denn.“

*

Tom kaute gedankenverloren auf dem hinteren Ende seines Stifts herum. Verstand da einer die Kreuzworträtselheftchenmacher!

Torhüter der sumerischen Unterwelt, mit vier Buchstaben...woher, bei Blake, sollte Tom so etwas wissen? Er war schon froh darüber, daß er sich den Namen des Torhüters der Grenadier - Thekenmannschaft merken konnte, und der hatte definitiv mehr als vier Buchstaben.

Ein wenig genervt sah er auf. Wie lange die beiden Anderen wohl noch brauchten? Zwanzig Minuten waren bereits verstrichen, es sollte doch wohl möglich sein, innerhalb dieser Zeit ein paar Polizisten zu erschießen, ein Zellenschloß aufzubrechen und Doc Delphi zu retten.

Tom schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem Rätselheft zu. Hauptwelt des Konkordats. Sechs Buchstaben...hm...

*

„Soviel Glück können nur wir haben,“ zischte Sable seinem Kompagnon zu. Clemens, dessen Knie sich bedenklich weich anfühlten, nickte. Der Polizist, der heute Nacht Wachdienst hatte, saß schräg mit dem Rücken zu ihnen; auf seinen Knien balancierte ein Walkman, und einer seiner Füße, die auf dem mit zerknitterten Ausdrucken übersäten Schreibtisch ruhten, wippte im Takt der Musik, die durch die Kopfhörer in die Ohren des fetten Mannes drang.

Wie auf ein Kommando hin machten Beide einen Schritt rückwärts, wieder in den Gang hinein, dann sahen sie sich an.

„Na los,“ drängte Sable und preßte Clemens eine Hand ins Kreuz, „dein Auftritt!“

Clemens stemmte sich gegen den Druck von hinten.

„Bist du blöd? Wieso mein Auftritt?“

„Weil da vorne ein Bulle sitzt, und weil wir den loswerden müssen, und weil du einen Revolver hast.“

Clemens zupfte an seiner Bandana, während er sich eine passende Antwort zurechtlegte.

Klick.

„Hey, es ist nicht mein Job, Polizisten umzulegen,“ meinte er schließlich. „Du hättest doch lieber Tom mitnehmen sollen.“

„Nein, eben nicht,“ zischte Sable zurück. „Tom hätte hier ein Blutbad angerichtet, und genau das kann ich nicht so gut vertragen. - Was übrigens der zweite Grund dafür war, daß ich ihn nicht mitnehmen wollte.“

„Dann tu’s selber. Du bist doch der Polizistenmörder von uns beiden.“

„Ich?“ Sable riß empört die Augen auf. „Ich habe noch nie einen Bullen totgemacht. Wer, zum Teufel, setzt eigentlich immer diese ganzen Gerüchte über mich in die Welt?“

„Ach, und wie war das mit den Polizisten auf der Landstraße?“ hakte Clemens nach.


„Die?“ Sable zuckte die Achseln. „Wie du bereits vermutet hattest - die waren ganz einfach tot. Sie hätten eben nicht auf unseren schönen Wagen auffahren sollen. - Und, verdammt, selbst wenn sie noch alle am Leben gewesen wären, hätte ich sie trotzdem nicht umgebracht. Ich habe, um genau zu sein, überhaupt noch niemanden umgebracht, außer vielleicht im Krieg, aber selbst das habe ich tunlichst vermieden, wenn ich die Chance dazu hatte.- Manchmal verarsche ich Leute, zugegeben...sogar richtig schlimm, wenn ich es für nötig halte, weshalb ich dir nur den Rat geben kann, mir möglichst nicht zu vertrauen. Ich vertraue dir schließlich auch nicht. Ich habe mich auch schon mehr als einmal geprügelt...was glaubst du, weshalb ich neun Goldzähne habe? Bestimmt nicht, weil sie mir ganz besonders gut gefallen.Aber ich bin kein Mörder, und das ist wohl so ziemlich das Einzige, was du mir glauben kannst.- Davon abgesehen habe ich nicht von dir verlangt, den Bullen da drin um-zubringen. Es genügt, wenn du ihn K.O. schlägst.“

„Aber-“

„Davon wird der Revolvergriff schon nicht kaputtgehen. Los, mach schon!“

„Ich weiß nicht so recht-“

„Gib her,“ stöhnte Sable. „Mir langt’s jetzt. Los, gib’ die Waffe her, du kriegst sie später wieder!“

Erleichtert kam Clemens der Aufforderung nach. Sable packte den Revolvergriff, warf Clemens einen „Ich-bin-ja-schon-feige-aber-von-dir-hätte-ich-das-nicht-erwartet“ - Blick zu und machte einen beherzten Schritt vorwärts in die Dienststube hinein. Und lief frontal gegen die Mündung einer Coventry .45.

*

Tom gähnte. So langweilig wie heute Nacht war ihm schon lange nicht mehr gewesen, auch, wenn’s für einen guten Zweck war...und inzwischen taten ihm vom vielen Schreiben die Finger weh. Besitzer des Vulcan - Tiger - Mechstalls, unendlich viel Buchstaben...

Tom blickte hoch, als er den Wagen in seine Richtung kommen hörte. Es war ein Radfahrzeug, ein dunkelblauer oder schwarzer Transporter, und er fuhr entschieden zu langsam.


Tom runzelte die Stirn. Was mochte das bedeuten? Das Fenster auf der Fahrerseite des Transporters stand offen, und im Schein der Straßenlaterne konnte Tom deutlich erkennen, daß die blonde Frau, die hinter dem Lenkrad saß, schwarzes Synthleder trug.Sie sah zu Tom herüber und lächelte; dann hielt der Transporter an.

*

Sable hockte auf der Pritsche, den Kopf auf den Knien, und funkelte Clemens an, der es sich auf dem Stahlbetonboden der Ausnüchterungszelle so bequem wie möglich gemacht hatte.Die Gitterstäbe vorne und links trugen nicht unbedingt viel zur Verbesserung des Gesamteindrucks ihres derzeitigen Aufenthaltsortes bei.

„Wieso bist du nicht einfach abgehauen, als du die Gelegenheit dazu hattest?“ wollte Sable wissen.

„Weil er gesagt hat, ‘Stell dich brav an die Wand, oder ich leg’ dich um,’“ rechtfertigte sich der junge Einheimische. Sable schnaubte.

„Klar hat er das gesagt. Aber zu MIR! Dich hat er doch gar nicht sehen können, du warst doch noch im Gang draußen!“

„Ach,“ wehrte Clemens verärgert ab, „und wenn schon.“

„Heiliger Blake, was heißt hier, ‘Und wenn schon’? Weißt du, was jetzt passieren wird? Dieser Fettsack wird sein Kaffestückchen essen, dabei krümeln wie ein Schwein, zurückkommen und nach unseren Personalien fragen. Und dann-“

„Du bist ja ganz schön hysterisch,“ meinte Clemens. „“Wir hatten einfach Pech, daß seine Kassette gerade ausging, als wir noch am diskutieren waren, das ist alles. Und wenn es dich beruhigt: daß ich jetzt hier sitze, ist ganz alleine meine Schuld, zugegeben. Das ändert aber überhaupt nichts an deiner Anwesenheit hier, also reg’ dich ab!“

„Hör zu, Clemens-“

„Hey,“ plärrte eine Stimme zu ihrer Linken, dann schälte sich eine Silhouette aus der Dunkelheit der benachbarten Zelle. Langsam kam sie bis zum Trenngitter, und sichtbar wurden eine Unmenge struppigen roten Haars, metallisch glänzende Stoffreste, die man kaum noch als Kleider bezeichnen konnte, und ein paar weiße Lackstiefel, die ihrer Trägerin bis über die Knie reichten.

„Hey,“ wiederholte sie, „dich kenn’ ich doch. Du bist doch der Missionar...Chico Carreras Stabschef. Der, der jedem Penner an der Straßenecke eine halbstündige Moralpredigt hält. Stimmt’s?“

„Äh, ja,“ meinte Sable, der ziemlich überfahren aussah, und ergriff die ihm durch die Gitterstäbe dargebotene Hand. „Angenehm, Jake Esposito. Die meisten Leute nennen mich allerdings Sable.“

„Lily,“ grinste sie und entblößte leicht vorstehende Zähne. „Und das ist meine Kollegin Yasmine.“

„Hallo,“ rief eine zerrupft aussehende, blonde Asiatin, die es sich auf der hölzernen Bank in der Nachbarszelle gemütlich gemacht hatte. „Freut mich sehr, Jungs!“

Nun stand auch Clemens auf und kam, von der Neugierde getrieben, ans Gitter.

„Hai. Ich bin Clemens. Weshalb seid ihr denn hier?“

Lily grinste. „Also, wir beide sind hier, weil wir keine Lizenz haben. Nicht, daß es hier in Amberton so etwas wie eine Lizenz für Straßenarbeit gäbe, aber...was soll’s! - Shiva dort drüben-“ sie zeigte auf irgend etwas zwei Zellen weiter, das sich nach eingehender Betrachtung als ein zum Schlafen zusammengerollter Riese entpuppte, „- hat den Rausschmeißer vom Heaven durchs Fenster auf die Straße geworfen.“

„Sonst ist niemand hier?“ fragte Sable und schaute forschend durch die Gitterstäbe; Lily schüttelte die roten Zottelhaare.

„Niemand. In der Zelle nebenan -“ sie deutete mit dem Daumen über ihre Schulter, „- hat bis heute Mittag so’n Junkie gesessen; den haben sie aber gehen lassen, nachdem sie ihn verhört haben. - Sagt mal - hört ihr das auch?“

Clemens schüttelte den Kopf, aber Sable nickte.

„Das klingt wie ein Feuergefecht,“ meinte er unschlüssig.

„Ja,“ nickte Lily, „exakt draußen vor der Wache!“

In diesem Augenblick schob sich der fette Polizist durch die Tür in den Zellentrakt. In einer Hand hielt er einen Schlagstock, mit dem er sich fröhlich auf die andere Handfläche klopfte.

„Hallöchen,“ rief er munter und marschierte an den Ausnüchterungszellen vorbei, bis er an der letzten ankam.

„Ihr da,“ meinte er und deutete auf Sable und Clemens, „ich brauch’ noch eure Personalien. Wie heißt du?“

„Smith,“ knurrte Sable, „John X. Smith III.“

„Papiere hast du natürlich keine dabei,“ freute sich der Polizist und wandte sich Clemens zu. „Und du?“

„Lloyd Kitchener; Lloyd mit zwo ‘L’.- Und meine Papiere habe ich auch nicht bei mir.“

„Kitchener, Lloyd mit zwei ‘L’, aha.“ Der Polizist schrieb sich das auf , dann nahm er wieder seinen Schlagstock und hieb ihn spielerisch gegen das Gitter.

„Ihr beiden werdet euch sowieso noch wundern. Einbruch, versuchter Mord und Widerstand gegen die Staatsgewalt...da kommt schon was zusammen. Und wenn ich da ein paar Dinge untersuche, die du vorhin so vertrauensselig erwähnt hast,“ er grinste Sable an, „dann kommt vielleich noch ‘n Polizistenmord dazu., was denkst du?“

Sable sprang mit allen Vieren gleichzeitig gegen das Gitter, wobei ihm wie zufällig der Kragen des fetten Polizisten zwischen die Finger geriet.

„ICH GEB’DIR POLIZISTENMORD, SOVIEL DU WILLST, DU WIDERLICHER FETTSA-“

‘Fratz’ machte es, als der Polizist Sable den Schlagstock mitten in die Visage bollerte. Sable ließ los und verbreitete sich auf dem Zellenboden, und der Polizist trat ein paar Schritte zurück.

„Das war nur eine Kostprobe, du kleiner Wixer. Versuch das noch einmal, und ich mache Sushi aus dir!

Clemens kam näher an die Gittertüre heran und lächelte.

„Arschloch.“

„WAS?“ brüllte der fette Polizist. „DAS IST BEAMTENBELEIDIGUNG! ICH WERDE-“

„Officer,“ hauchte Lily, „draußen gibt es gerade eine Schießerei.“

Der Polizist verdrehte seine dicken Hals und strich seinen Uniformkragen glatt.

„Kann schon sein,“ grunzte er. „Und?“

„Sollten Sie sich nicht darum kümmern? Schließlich sind Sie Polizist.“

„Vergiß es, Kleine.“ Der Polizist grinste. „Es ist nicht mein Job, mich um Schießereien auf der Straße zu kümmern.“

Lily zog die Brauen hoch.

„Wenn das nicht Ihr Job ist, Officer - was dann?“

Sein Grinsen wurde breiter. „Wenn du so viel Wert darauf legst, kann ich’s dir ja mal zeigen.“

Auch Lily grinste...

Dann sperrte der Dicke die Zelle auf, um sie rauszulassen. Nachdem er das Gitter vor Yasmines Nase wieder verriegelt hatte, schob er Lily vor sich her ins Büro.

„Weißt du, Sable,“ meinte Clemens, nachdem die Tür zum Zellentrakt wieder ins Schloß gefallen war, „langsam fange ich an, deine Ansichten über die hiesige Polizei zu teilen.- Sable? Haaallo, Sable!“

*

„Huh, Officer,“ mahnte Lily, „nicht so stürmisch!“

„So bin ich eben,“ lachte der fette Polizist, nicht gewillt, locker zu lassen, während sich seine Speckfinger mit dem Reißverschluß ihres - nun ja - Kleides abmühten.

Draußen war das Rattern einer automatischen Waffe zu hören. Glas splitterte und Leute kreischten.

„Officer,“ begann Lily wieder, „da draußen ist was los.“

„Ja,“ japste der Polizist und arbeitete weiter, „hier auch. Sobald ich das hier aufkriege. Außerdem heiße ich Kurt.“

„Das könnte aber gefährlich werden, Kurt,“ hakte Lily nach. Der Dicke grunzte.

„Das hier auch, haha!“

Lily seufzte. Dann zeigte sie auf das Fenster, das zur Straße hinaus ging.

„Und wenn einer da durchschießt? - Ich meine, das wäre doch möglich, und-“

„Puh,“ stöhnte Kurt und ließ von Lily ab. „Wo du Recht hast, hast du Recht. Hab’ schon verstanden.“

Er zwinkerte ihr zu.

„Ich laß’ den Rolladen ‘runter.“

Lily zwinkerte zurück, und dann griff sie nach dem Telefonbuch.

*

„Nimm deine Finger da weg,“ fauchte Sable ;Blut tropfte immer noch auf das teure Sherman - Hemd und die ohnehin schon fleckigen Jeans. „Daß meine Nase gebrochen ist, weiß ich selbst, dazu brauche ich nicht noch deine Diagnose!“

Clemens kratzte sich unter der Bandana, wo es juckte, und legte seine Stirn in Falten. „Also, ich würde eher sagen, daß da was ‘rausguckt - kann ja eigentlich bloß der Kno-“

„Aaaaaaaahseiruhigseiruhigseiruhig,“ heulte Sable, schlug beide Hände vors Gesicht und machte Augen wie Schlachtplatten, und in diesem Moment kam Yasmine ans Trenngitter.

„Die Ballerei draußen ist vorbei, glaube ich.- Clemens?“

Der Angesprochene zuckte zusammen.

„Ja?“

„Wie, bei Blake, kommt man auf einen Namen wie Lloyd Kitchener?“

„Äh...so hieß mein Sportlehrer. Ich finde, der Name klingt sehr authentisch-“

Die Tür zum Zellentrakt wurde aufgestoßen, und Lily kam hineingestolpert.

„Hey,“ brüllte sie, „das war ein unvergeßliches Erlebnis,“ und schwenkte eine rote Schlüsselkarte.

„Yasmine, mein Kind, ein dreifaches Hoch auf ComStar und ihre dicken Telefonbücher! Wir sind freihei!“

Fröhlich machte sie sich daran, Yasmines Zelle aufzusperren. Das blonde Mädchen winkte Clemens zu und schloß die Gittertüre hinter sich; dann machte sie Anstalten, zu gehen.

„Hey,“ meinte Clemens. „Mädels!“

„Jaaa?“ fragte Lily gedehnt; Yasmine riß bloß erschreckt die Augen auf.

Clemens kam ganz dicht ans Gitter. „Hört mal, ihr Süßen, wäre es euch vielleicht möglich, uns auch rauszulassen?“

Lily kam ebenfalls ganz dicht ans Gitter.

„Möglich wäre es. Tun tu’ ich’s trotzdem nicht. - Viel Spaß mit Kurt, Jungs.“

Da klappte Sables Kiefer nach unten.

„Spaß? SPASS? - Wenn du den Fettsack nicht umgebracht hast, wird er uns killen!“

„Jetzt übertreibst du aber,“ erklärte Lily. „Davon abgesehen, wie siehst du überhaupt aus? Ist ja schlimm. Offener Nasenbeinbruch, würde ich sagen.- Ciao, Jungs.“

„Komm schon, Lily,“ bat Clemens, „laß’ uns raus. Bitte bitte bitte.!“

Lily lächelte

„Das hast du nett gesagt, Bübchen, aber ich kann es mir wirklich nicht leisten, ein paar von Carreras Leuten aus den Klauen der Polizei zu befreien. Wenn das bekannt wird, bin ich bei den Toten erledigt.“

„Oh, ist mir schlecht.“ Sable hielt wieder beide Hände vor die kaputte Nase. „Sag bloß, ihr geht für die Toten auf den Hammer?“ Lily nickte, immer noch lächelnd.

„Exakt.“

„Freiwillig?“

„Nicht direkt,“ sprudelte Yasmine hervor, bevor Lily etwas sagen konnte; die Rothaarige starrte sie verblüfft an, und Yasmine zuckte wie entschuldigend mit den Achseln.

Sable setzte - soweit das im Augenblick ging - seine sozialste Miene auf, als er fragte: „Und was verdient ihr so am Tag?“

„Vier Scrip,“ erklärte die kleine Asiatin ernsthaft. Sable, der ja im Grunde genommen überrhaupt kein Einkommen hatte, zog die Augenbrauen hoch bis zum stoppeligen Haaransatz.

“Bei allen Aufsichtsratsmitgliedern der Hölle- das ist doch wohl ein Witz, oder? Vier Scrip am Tag, das macht 120 im Monat, ohne Versicherung - Scrip, bist du sicher? Nicht etwa C - Noten?“

„Scrip,“ bestätigte Yasmine und zeigte eine Münze der minderwertigen solarianischen Eigenwährung vor. Lily stieß einen rotlackierten Zeigefingernagel durch das Gitter.

„Damit das klar ist: für euren bescheuerten Boß Carrera stellen wir uns nicht an die Straße. -Keine von uns,“ fügte sie mit einem schrägen Blick auf Yasmine hinzu, die noch ein wenig kleiner zu werden schien.

„Für Carrera kann sich auch gar keine von euch Beiden mehr an die Straße stellen,“ stellte Sable klar. „Den hat nämlich der Ratzehannes geholt. Wenn ich euch ein Angebot mache, dann hat außer mir selbst niemand etwas damit zu tun. Ich bin in eigener Sache hier.“

Lily und Yasmine schauten sich an; Lily schüttelte den Kopf.

„Sagt, was ihr wollt,“ bohrte Sable weiter, dem das Leben soeben wieder Spaß zu machen begann. „Vielleicht kann ich es für euch beschaffen, wer weiß?“

„Mach mir ‘nen Vorschlag,“ grinste Lily.

„Zehn C - Noten bar auf die Kralle...nein? Na schön. Eine Wohnung, frisch renoviert? Auch nicht?“ Sable überlegte weiter. „Vielleicht ein Kind? Ich kann dir eins organisieren. Ist ganz umsonst.“

„Äh-“ Lily, die nicht so richtig wußte, was sie von diesem Angebot halten sollte, schüttelte vorsichtig den Kopf. „Nein, danke, wirklich nicht. - Ich dachte eher an einen guten Job.“

„Einen Job? Einen Job...oh, ja.“ Sables Kopf ruckte hoch, und böse kleine Flämmchen flackerten plötzlich in seinen Augen auf.

„Habt ihr Verkaufstalent? Natürlich habt ihr Verkaufstalent. Wollt ihr zehn Prozent vom Erlös all dessen, was ihr loskriegt?“

“Was-“ fragte Lily und legte den Kopf schief, „-sollen wir denn verkaufen?“

„Waffen,“ meinte Sable nüchtern. „Im Einzelhandel. Da springt auf jeden Fall mehr bei raus als vier Scrip pro Tag und Nase... auch wenn ihr nur einen elenden Karabiner loswerdet.“

„Ehrlich?“ wollte Yasmine wissen und machte große Augen.

„Ehrlich,“ gab Clemens Sable Schützenhilfe, weil er schließlich auch gerne aus der Zelle rauswollte.

Yasmine zog Lily am Arm und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um ihrer Kollegin etwas zuzuflüstern. Die runzelte die Stirn und nickte bedächtig. Dann schauten beide wieder in Sables Richtung.

„Einverstanden. Aber wenn du versuchst, uns abzulinken, hast du ein Problem.“

„Ich habe noch nie jemanden abgelinkt,“ protestierte Sable nicht ganz wahrheitsgemäß. Lily zwinkerte ihm zu.

„Aber klar,“ meinte sie. „Wir werden aber trotzdem gut mit einander auskommen, denke ich.“ Mit diesen Worten öffnete sie das Schloß der Zellentür, und Clemens fiel ein Stein vom Herzen. „Hey, danke,“ rief er und schlüpfte durch die Tür. Sable schloß sie hinter sich und stupste Clemens an.

„Willst du auch in den Waffenhandel einsteigen?“

„Oh,“ meinte Clemens erschrocken, „ich meine, vielen Dank für das Angebot, aber - äh - ich meine, ich will ab nächstem Jahr Betriebswirtschaft studieren, weißt du-“

„Studenten brauchen immer Geld,“ erklärte Sable trocken, „außerdem kannst du dabei sicher etwas fürs Leben lernen. Überleg’s dir. - Na schön, Mädels, fangen wir schon mal mit der hiesigen Waffenkammer an. Hat jemand ein paar Plastiktüten gesehen?“

Clemens, den das Jobangebot in seinen Grundfesten erschüttert hatte, deutete auf den Gang.

„In der Küche, glaube ich.“

„Danke.“ Sable berührte seine konstant blutende Nase und verzog sofort den Rest des Gesichts. „Und was tun wir mit dem Großen dort hinten?“

Alle sahen zu Shiva hin, der sich gerade aufsetzte und damit begann, sich die Augen zu rubbeln.

„Hey, Königstiger,“ rief Lily, „was krieg’ ich denn von dir, wenn ich dich rauslasse?“

*

Gründer von ComStar, fünf Buchstaben. - Heiliger Blake, wer mochte das schon wieder sein? Stirnrunzelnd biß Tom auf seine Stift, so daß es krachte.

Fünf Buchstaben. Fünf Buchstaben....

Das Geräusch der zuschlagenden Haustür gegenüber ließ ihn hochschrecken, um zu sehen, wie Sable und Clemens die Polizeistation verließen. Hinter den Beiden, die jeweils zwei prallgefüllte Müllsäcke trugen, kamen zwei Mädchen. Eine hatte rote Haare und trug eine Mikrowelle unter dem Arm, die andere war wasserstoffblond und mit einem Laptop beladen. Den Beiden wiederum folgte ein gigantisches, blondes Muskelgebirge, das alle um mehrere Haupteslängen überragte und generell aussah wie ein Clan- Elementar. Seine Arme, die Tom noch am ehesten an Schweinehälften erinnerten, umklammerten etwas, das beinahe so aussah wie ein Tresor.


Als Sable an das völlig zerschossene Kabrio kam, setzte er die Müllsäcke ab und kratzte sich am Kopf.

„Hey, Sable,“ brüllte Tom aus dem Fenster des Transporters, und alle drehten sich wie auf ein Kommando hin um.

„Was, bei Blake, ist denn mit deiner Nase passiert? Und wie heißt dieser beschissene Gründer von Com-Star?“

*

„Naja,“ erzählte Tom, während er beim Einladen der Müllsäcke und der Restbeute in den Transporter half, „da kam also dieser Lieferwagen an, und ich hab’ Melissa am Steuer sitzen sehen, und die gehört ja zu den Toten, und da wollte ich doch lieber den Lieferwagen haben als das Kabrio, und da habe ich sie eben abgeschossen.Ich wollte die Urlan doch mal ausprobieren. Und als dann fünf Typen aus dem Wagen hüpften und riesige Wummen zogen, hab’ ich ein bißchen Gorillakrieg mit ihnen gespielt. Ich glaub’, ich hab’ gewonnen.“

Er zuckte die Achseln. „Naja, echt schade, daß ihr Doc Delphi nicht gefunden habt, aber, wenn er frei ist...was soll’s.“

Yasmine, die sich in eine Ecke des Transporterinneren verzogen hatte, kicherte. „Hey, jetzt fahrt doch endlich los, ich will wissen, was in dem Tresor ist!“

Sable, der es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht hatte und gerade den Inhalt der Geldbörse des fetten Polizisten kontrollierte, sah hoch.

„Stimmt, wir sollten zusehen, daß wir uns beeilen, sonst räumen die Bullen Chicos Keller doch noch vor uns aus.- Lily, du glaubst gar nicht, was da alles drin ist - Pistolen, Schrotflinten, Sturmgewehre, MGs, Granaten jedweder Couleur, Sprengstoffe aller Arten, Laserwaffen in rauhen Mengen, Raketenwerfer, Flammenwerfer und genügend Munition, um ein ganzes Regiment glücklich zu machen.“

„Wieso sind die blöden Toten überhaupt mit diesem Auto hier Streife gefahren?“ wunderte sich Tom. Sable zog ein kleines, fleckiges Heftchen aus den Innereien seiner Bomberjacke. „Weil sie nach Gestern wohl sichergehen wollten, daß auch die letzten Block 5er von der Straße verschwinden, deshalb.“ Stirnrunzelnd begann er, das Heftchen zu durchblättern. „Davon abgesehen konnten sie ja nicht ahnen, daß sie ausgerechnet einem Superhelden wie dir begegnen würden. Blödmann. - Oh weh, wenn ich mir Chicos Adreßbuch hier so anschaue, glaube ich nicht, daß uns die Ware jemals ausgehen wird. Sagt euch z.B. ‘Coventry Arms’ etwas?“

Shiva lächelte so freundlich, wie es einem Ungeheuer von seinen Ausmaßen möglich war.

„Ihr habt mich zwar nicht danach gefragt, aber auch ich habe die Möglichkeit, an Kriegsmaterial recht günstig heranzukommen.“

„Was,“ wollte Clemens wissen, „wenn wir nicht genügend Geld haben, um eine Lieferung von Coventry oder so zu bezahlen?“

„Auch das sollte nicht passieren.“ Mit sich und der Welt zufrieden wedelte Sable mit dem Heftchen. „Du weißt nicht, was Chico Carrera hauptberuflich tat, oder? Von seiner Softwarepiraterie mal ganz abgesehen. Nein? - Nun, er war Erpresser, und er hat sehr, sehr ordentliche Aufzeichnungen gemacht.“

Sable steckte das Heftchen wieder ein und runzelte die Stirn.

„Tom Allen, jetzt fahr endlich los, verdammt! Wir müssen zu Chicos Keller, ich muß zum Arzt, und dann wollen wir schließlich alle nach Kalamazoo, wo es den größten Markt für illegale Dinge jenseits des Mississippi gibt, aber wenn du deinen fetten Arsch nicht auf der Stelle in Bewegung setzt, werden wir in hundert Jahren noch vor der Polizeiwache herumstehen! Dann wird einzig wegen deiner Blödheit die Verstärkung kommen, sie werden uns fangen und einsperren und foltern-“

„Langsam,“ seufzte Tommy ‘Superheld’ Allen, „gehst du mir echt auf den Sack,“ fuhr eine Hand aus, schlug Sables Kopf so oft gegen die Seitenscheibe, bis der Kunststoff splitterte, und fuhr los.

Tatsächlich war nicht nur Sable für den Rest der Fahrt ziemlich still.

Sieben ungelöste Fragen...

1. Was geschah in Teil 1 mit dem rothaarigen Gorilla?

2. Was ist mit Herrmann?

3. Was ist mit Clemens’ Motorrad?

4. Wo ist Doc Delphi jetzt?

5. Was versprach Shiva, für Lily zu tun?

6. Wo sind die Leichen der sechs Toten aus dem Transporter?

7. Was ist in dem Tresor?

...und ein Kreuzworträtsel (siehe rechts)

Die Buchstaben in den umkreisten Feldern ergeben in der richtigen Reihenfolge einen Begriff, der sowohl ein ziemlich unangenehmes Tier wie auch einen mindestens ebenso unangenehmen Battle-Mech bezeichnet. Der oder die EinsenderIn der ersten korrekten Lösung kriegt einen wirklich sauschlimmen Preis!

Lösungen natürlich an die Redaktion. Übrigens werden auch die Leute, die besonders abwegige oder der Wahrheit nahe kommende Antworten auf die oben aufgeführten ungelösten Fragen einschicken, mit einer exquisiten Scheußlichkeit aus dem Hause O. belohnt. Redaktionsmitglieder sind selbstverständlich von diesem „Wettbewerb“ ausgeschlossen... aber wenn jemand ganz dringend einen Tip braucht, kann er sich gerne an die Redaktion wenden!

Die besten Antworten, falls es welche gibt, werden selbstverständlich in der nächsten Ausgabe der Ge-dankenwelten veröffentlicht.

Einsendeschluß ist der 20 Februar 1995

von Nicole Oppermann

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