Teil 2
Große, weiße Stoffbahnen waren von Haus zu Haus über die
Straße hinweg gespannt worden, um die Glut der Sonne abzuhalten. Und
je reicher der Besitzer eines Anwesens, desto mehr Stickereien fanden sich
in dem blütenreinen Tuch. Die Vielfalt und Farbenfreude der Motive war
atemberaubend und reichte von einfachen Symbolen bis hin zu hervorragenden
Porträts, detailgetreue Schlachten- und Landschaftsdarstellungen.
Aber dafür hatte der Caderoneyaner keine Augen.
Schon bald bemerkte Nekali, daß es ein Fehler gewesen war, den freundlichen
Händler und seine Mitreisenden zu verlassen. Er irrte durch die Gassen
der riesigen Stadt und verlor recht schnell den Überblick. Auch die versuchte
Orientierung an Stickereien scheiterte.
Überall um ihn herum wimmelte es von fremdartigen Rassen und Menschen,
die den Jungen teilweise unsanft aus dem Weg schoben oder Beschimpfungen auf
ihn herabregnen ließen. Er kam sich vor wie ein winziges Boot in den
Wellen.
Die Umgebung roch durchdringend nach Schweiß, Essensdüften und
anderen undefinierbaren Gerüchen. Was den kleinen Dieb zunächst
fasziniert hatte, brachte ihn nun zusehends durcheinander und jagte ihm Angst
ein. Die vielen neuen Eindrücke erschreckten Nekali, und verunsichert
setzte er sich zwischen die überladenen Verkaufsstände an eine Häuserwand,
die Arme um die Knie geschlungen. Ein Mitleidiger warf ihm eine Blechmünze
hin.
Die durchdringenden Stimmen der Händler, die ihre Waren anpriesen, drangen
durch den Lärm der Umgebung. Dann teilte sich die Menge der Leute urplötzlich
und machte einer Patrouille Platz.
Die vorübergehenden Wachen, gepanzert bis an die Zähne, musterten
den Jungen eindringlich. Das praktische Weiß ihrer Rüstungen reflektierte
die sengenden Strahlen der Sonne; zusätzliche leichte Stoffüberwürfe
verhinderten eine zu starke Erhitzung der Metallteile.
„Halt“, befahl der Anführer der Wachen und baute sich
eindrucksvoll vor Nekali auf. „Was tust du hier, Junge?! Bettelst du
etwa außerhalb eures Bezirkes?“ Der große Mann packte ihn
am Oberarm und zog ihn auf die Füße. „Wie oft muß
man euch sagen, daß ihr gefälligst in eurem Viertel zu bleiben
habt, du Carrk!?“
Dem kleinen Langfinger versagte vor Schreck das ansonsten stets schlagfertige
Mundwerk. Überrascht starrte er den Gepanzerten an, der offensichtlich
auf eine Erklärung wartete.
„Was ist nun, Carrk?!“, sagte der Mann fordernd und schüttelte
ihn. „Soll ich dich erst zum Sprechen bringen, oder gibst du freiwillig
einen Ton von dir?“
„Achtung, Tury! Vielleicht ist seine Zunge verfault und er kann deshalb
nicht sprechen.“ rief einer aus der Mannschaft und wich vorsichtshalber
einen Schritt zurück.
„Unsinn!“ herrschte der Vorgesetzte über die Schulter.
„Er trägt nicht das Zeichen der Aussätzigen. Der Kleidung
nach scheint es ein einfaches Kind zu sein, das aus dem zwielichtigen Viertel
der Vergnügungen stammt.“
In zuckersüßem Tonfall und mit einem freundlichen Gesicht wandte
er sich wieder Nekali zu. „Nicht wahr, Kleiner? Das stimmt doch, oder?!“
Vor Verwirrung nickte der heftig, froh, einen Ausweg gefunden zu haben.
„Also doch ein Carrk!“ brüllte der Tury triumphierend,
„Ich wußte es!“ Die Menschen um die Gruppe herum liefen
zügig weiter, als sei nichts geschehen und kümmerten sich nur wenig
um den Vorgang. „Wir nehmen dich mit, Carrk. Du bekommst beigebracht,
was Ordnung heißt!“ Der Anführer schleuderte Nekali in die
Mitte der Bewaffneten. „Gehen wir.“
Da stürmte ein Mann aufgebracht aus den Reihen der Schaulustigen hervor.
Es war Jûl! „Da bist du ja, ungezogener Bengel!“ rief
er gespielt empört und machte dem gefangenen Freund ein Zeichen. „Den
ganzen Markt habe ich abgesucht nach dir! Und wo muß ich dich finden:
Inmitten der Wache!“ Er fiel auf die Knie und umarmte den Jungen stürmisch.
„Aber hier bist du wenigstens in Sicherheit! Haben die tapferen Krieger
gut auf dich acht gegeben, NEFFE?!“
Der Tury sah verblüfft auf das Schauspiel, das sich ihm bot. „Euer
Neffe, Händler? Mir hat er gesagt, er wäre aus dem Viertel der Vergnügungen!“
Jûl erhob sich strahlend, Nekali an der Hand haltend. „Ach,
was! So traurig es ist, aber der Kleine ist unglaublich dumm.“ Augenblicklich
versuchte Nekali so stumpfsinnig dreinzuschauen, wie es ging. Sein Gesicht
erschlaffte und verlor jeden aufgeweckten Zug.
„Seht Euch doch diese Glasaugen an, Herr. Vermutet Ihr etwa dort nur
einen Funken Intelligenz? Er ist wie ein Papagei, plappert alles nach oder
stimmt allem zu! Oder?!“ Der Taschendieb nickte begeistert und grinste
dabei dämlich.
„Wenn das so ist...“ meinte der Gepanzerte über-rumpelt,
schob den Helm zu Seite und kratzte sich geräuschvoll am Kopf. Jûl
sah, daß seine Bemühungen Erfolg hatten und redete so lange, bis
es der Tury schließlich entnervt aufgab, dem unaufhörlichen Geschwafel
zu folgen.
„Schon gut, Händler. Paß das nächste Mal besser auf
deinen Neffen auf, bevor er sich noch freiwillig auf dem Sklavenmarkt verkaufen
lassen läßt!“ Er gab den Befehl zum Aufbruch und die Wachen
verschwanden im Gewühl.
„Das war extrem knapp, Junge.“, hörbar atmete Jûl
aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir können
von Glück sagen, daß wir auf einen echten Dummkopf gestoßen
sind. Sonst wärst du erstmal bestraft und anschließend zurück
in das fast rechtlose Viertel gebracht worden.“ Der Mann versetzte
ihm eine schmerzhafte Kopfnuss. „Du möchtest überhaupt nicht
wissen, was dir dort alles widerfährt, solltest du Pech haben.“
Nachdenklich musterte Jûl seinen Schützling. „Und du scheinst
ziemlich viel Pech zu haben.“
„Ach, ja?!“ warf Nekali trotzig ein und hielt die Münze
hoch. „Immerhin habe ich schon Geld verdient! Du auch?!“
Der Händler lachte schallend. „Eine wahre Krämerseele! Ich
werde eine Zeitlang in der Stadt bleiben müssen. Und irgendwie glaube
ich, daß du noch viel lernen mußt, kleiner Mann. Hättest
du etwas dagegen, wenn ich es dir beibringe?“
„Ein Neffe lernt am liebsten von seinen Verwandten, ONKEL!“
gab der junge Langfinger ebenso betont zurück und lächelte zufrieden.
*
„EINE VORSTADT? Ich habe mich in einer Vorstadt verirrt?!“
rief Nekali beim Abendessen entgeistert und ließ beinahe seinen Teller
fallen.
Jûl bedachte ihn mit einem strafenden Blick. „Natürlich
ist es nur die Vorstadt gewesen. Was glaubst du eigentlich, wie groß
Férúsòn ist?“ Versonnen belud er das Gefäß
seines kleinen Freundes. „Sie ist die Perle der Wüste, der Drehpunkt
des Handels und eine ausgemachte Schönheit in der Trostlosigkeit des
Sandes!“ Er reichte den überfüllten Teller Nekali und grinste
verschlagen. „Und die beste Ei-genschaft: Man verdient jede Menge hübscher
Kupferstücke!“
Der
junge Taschendieb schüttelte voller Unverständnis den Kopf. „Erkläre
es mir bitte genauer, Jûl.“ -.„Nach dem Abendessen, oh
Neugieriger! Oder willst du, daß ich vor Hunger sterbe?!“ - „Das
du immer so übertreiben mußt,“ seufzte Nekali und schaufelte
das Mahl mit unbekannten Zutaten in den Mund. Auch er verspürte ein gewisses
Hungergefühl und freute sich insgeheim über die kostenlose Verpflegung.
Inzwischen war es dunkel geworden. Kleine Feuer brannten an den Straßenrändern
und erhellten die ausgetretenen Wege.
Jûl hatte seinen Schützling in seine Lieblingskneipe „Ulgjak“
mitgenommen und dort zunächst ein Mahl geordert. Während er sich
mit Nekali unterhielt, grüßte er hin und wieder einige eintreffende
Gäste.
Die rassige, schwarzhaarige Wirtin schien der Händler noch besser zu
kennen. Tartia, so ihr Name, warf sich beim Eintreffen der zwei Freunde mit
Schwung um den Hals Jûls und küßte ihn intensiv auf den Mund.
Der Caderoneyaner grinste breit. „Sieh an, wer mich da besucht: Jûl,
der Schrecken aller ehrbaren Käufer! Welchen Einfaltspinsel hast du diesmal
übers Ohr gehauen?!“
Der Mann lachte und befreite sich geschickt aus dem zärtlichen Griff
der Frau. „Noch niemanden, Tartia. Aber das geschieht bestimmt nicht
mehr, wenn du alles herumschreist!“
Sie strich das lange Haar zurück, sah erstaunt auf Nekali hinunter und
stemmte die Hände in die schmalen Hüften. „Seit wann arbeitest
du im Sklavengeschäft? Er sieht etwas zerbrechlich und zierlich aus,
oder? Keine gute Ware, alter Halsabschneider. Den kannst du behalten.“
„Nicht doch!“ wehrte Jûl ab und warf sich auf eines der
niedrigen Sitzkissen, die Wirtin auf den Schoß ziehend. „Das
ist Nekali. Ich habe ihn in der Wüste gefunden, hierher gebracht und
zeige ihm die wichtigsten Regeln, bevor ich Férúsòn wieder
verlassen werde.“ Der Händler deutete mit dem Finger auf ihn.
„Er ist sehr vielversprechend, aber leider noch genauso unerfahren.“
Tartia stand auf und lächelte. „Gut! Wenn du mit Ausbilden fertig
bist, stell ihn bei mir vor. Ich kümmere mich dann um ihn.“ Die
Frau machte ein seltsames Zeichen mit der Hand. „Deine Freunde sind
auch meine Freunde, Jûl! Nun, ich vermute, du möchtest das Übliche
für dich und. Nekali?!“ Der Händler nickte, „Ich danke
dir, Blume der Wüste.“ „Ja, ja! Wie immer natürlich,
Halunke.“ Sie ver-schwand in der Küche.
Seitdem waren zwei Stunden vergangen und die beiden beim dritten Gang angelangt.
So satt und zufrieden hatte sich der junge Langfinger noch selten gefühlt.
Der ungewohnte Alkohol, den er von Jûl bekam, verursachte einen angenehm
schwebenden Zustand in seinem Kopf.
„Du wolltest vorhin etwas über die Stadt wissen. Also gib acht,
Nekali.“ Der ältere Freund entzündete eine Pfeife und sofort
verbreitete sich ein intensiver Geruch von Kräutern in der Luft.
„Wir sitzen hier in der Vorstadt von Férúsòn.
Sie liegt im Westen der Stadt, da von hier die meisten der Handelsgruppen
eintreffen. Es ist Gesetz, daß nur in Ausnahmefällen die Durchreise
durch die Innenstadt erlaubt ist, denn die riesigen Lastentiere könnten
eines der Häuser dort mit Leichtigkeit zerstören. Um dieser Gefahr
vorzubeugen, wurde die Vorstadt errichtet.“
Jûl nahm einen Schluck von der weinartigen Flüssigkeit zu sich.
„Um uns herum läuft der Zwischenhandel. Fremde Kaufleute und die
der Stadt kommen hierher, um unsere Angebote zu prüfen, Einkäufe
zu tätigen oder Kontrollen durchzuführen. Die Handelsgilde ist sehr
streng, was das Einhalten der Bestimmungen angeht. Eine davon ist, wie du
gemerkt hast, das Bettelverbot. Die Waren werden untereinander getauscht,
und einige erreichen vielleicht nie das Innere der Stadt, weil sie bereits
hier unter den Händlern verkauft werden.“
„Wieso ist ausgerechnet das Betteln verboten?!“ fragte Nekali,
der den Ausführungen Jûls bisher aufmerksam gefolgt war, trotz
Alkohol. „Ganz einfach. Zu Beginn war es jedermann erlaubt. Aber als
die Bettlermassen immer weiter zunahmen und man vor lauter Menschen am Boden
nicht mehr durchkam, erließ der mächtige Baruc dieses weise Gesetz.
Nun dürfen die Armen woanders soviel her-umlungern, wie sie wollen.“
Der Händler formte mit den Lippen einen perfekten Rauchkringel, „Aber
zurück zu dem Wichtigen, Nekali. Um die Wüste herum liegen viele
Reiche, die untereinander Handel treiben wollen. Den einen fehlt dieses, den
anderen jenes. Nur diese vier Wege aus Süden, Norden, Westen und Osten
nach Férúsòn stellen die einzige Verbindung dar, die
sie untereinander haben... Gäbe es die Stadt nicht mehr, würde das
für die meisten der Fürsten eine Katastrophe bedeuten.“
Der Junge runzelte die Stirn. „Hat man nicht versucht, andere Wege
durch den Sand zu finden?“ „Oha! Ein schlaues Kerlchen bist
du!“, rief Jûl amüsiert und blies ihm ein Schwall Rauch
ins Gesicht. „Doch die Wüste hat ihre gefährlichen Geheimnisse.
Eines der tödlichsten sind die T`Koshrá.“
Der Mann schluckte und senkte die Lautstärke. „Alleine den Namen
auszusprechen bringt Unglück, denn der Wind ist ihr Freund. Alles trägt
er ihnen zu, und fällt ihr Name, so horchen sie auf und sehen dein Gesicht
im Sand!“ Nekali wurde ein Stückchen kleiner. „Nur sehr
wenige haben ein Treffen mit den... du weißt schon wer... überlebt.
Der Sturm beschützt sie. Mit ihren seltsamen Waffen und Reitwesen streifen
sie durch die Wüste und suchen die Todesmutigen, die einen neuen Pfad
finden wollen. Keiner der Abenteurer kam je zurück. Nur die vier Wege
sind einigermaßen sicher.“
Eine merkwürdige Stille hatte sich im Schankraum ausgebreitet. Kerzen
und Fackeln zitterten sachte im Luftzug. „Aber das ist nicht so von
Bedeutung.“ räusperte sich Jûl, beeindruckt von seiner eigenen
Erzählung. „Kannst du noch zuhören oder willst du lieber
schlafen?“
Der junge Dieb war mit einem Schlag stocknüchtern. Und schlafen vermochte
er jetzt bestimmt nie mehr! „Erzähl nur weiter. Ich lausche.“
„Also gut.“ Der Händler legte die Füße hoch,
bohrte sich genüßlich zwischen den Zähnen und schnippte ein
Stückchen Fleisch fort. „Morgen zeige ich die Vorstadt ausgiebig.
Zur Zeit ist mal wieder Hochbetrieb, und da werden die Kräne überlastet
sein, schätze ich.“ - „Was denn für Kräne?“
wunderte sich Nekali, „Ich kenne sie vom Meer und dem Hafen.“
Jûl wiegte zustimmend den Kopf. „Genau so darfst du dir das
vorstellen. Aber ich kenne dieses... Meer auch nur aus Erzählungen. Ist
es wirklich ein unendlich großes Wasser, wie man sagt? Und es gehört
tatsächlich niemandem?“
Der Junge mußte lachen, als er die ungläubigen Augen seines Freundes
sah. „Ja, glaube mir. Viele Tagesreisen muß man machen, bevor
man erneut festen Boden unter den Füßen hat. Stell du dir eure
Wüste als Wasserfläche vor, nur ohne die T`Koshrá. Bei uns
gibt es solche Wesen nicht. Nur in den Wäldern, aber die sind friedlicher
und netter.“
„Verflucht! Was könnte man nicht alles aus solch einem Schatz
machen!“ ärgerte sich der Händler lautstark. „Aber
weiter im Takt. Also, morgen wer-den wir sehen, daß wir einen der Kräne
gemietet bekommen. Mit der Hilfe dieser Konstruktion ist das Entladen möglich,
und dem Tier kann die Reisekabine für eine Weile abgenommen werden. Tut
man das nämlich nicht hin und wieder, zeigen sich diese Zeitgenossen
sehr, sehr ungnädig.“ - „Was fressen diese Dinger eigentlich?!“
Der Caderoneya-ner schlürfte von seinem Becher.
„Menschenfleisch,“ sagte Jûl trocken, und Nekali spuckte
sein Getränk in hohem Bogen aus. Der Händler nippte am Glas und
freute sich über das entsetzte, blasse Gesicht. „Unsinn, kleiner
Freund. Nein, wir nennen sie Hldras und sie vermögen es, sich von winzigen
Tierchen im Sand zu ernähren. Sie verschlingen einen halben Berg Staub,
filtern das Schmackhafte heraus und speien den Rest wieder aus. Aber vor der
Abreise füttern wir sie richtig mit Abfällen, damit sie einen gewissen
Vorrat haben. Besonders intelligent sind sie nicht. Und sie frühstücken
aus Versehen schon mal den ein oder anderen Unvorsichtigen, ohne es zu merken.“
Nekali beschloß, lediglich in die Nähe von satten Hldras zu gehen.
Der Junge spürte die bleierne Müdigkeit, die sich in seinem Schädel
ausbreitete. Jûl schien die Lust am Erzählen vergangen zu sein,
und so beschlossen die Angetrunkenen, zurück zur Ladung zu marschieren.
Der Händler verabschiedete sich sehr ausgiebig von Tartia, und sie brachen
mit wackligen Beinen und unter Lachen auf.
An der frischen Luft wurde es Nekali schlagartig übel, so daß
er sich unterwegs achtmal von dem Wein übergeben mußte, bis sie
am Hldra ankamen. Jûl hielt ihm den Kopf und röhrte vor Vergnügen.
„Junge, das war mit Abstand der witzigste Abend, seit ich von zu Hause
aufgebrochen bin. Ich hoffe, du weißt das Kompliment zu schätzen.“
Würgend beugte sich der Taschendieb nach vorne und erbrach sich erneut.
Der Händler bugsierte ihn vor das Tier auf einen Strohsack und deckte
den Freund zu. „Möge Irth dir angenehme Träume bescheren,“
kicherte er leise, „und vor allem dein Kopfweh lin-dern, das du bestimmt
haben wirst, Nekali.“
Später in der Nacht erwachte der Junge, schaute in den stockdunklen
Himmel und bewunderte die Pracht der Sterne und der drei Monde, die sanft
schimmerten.
„Das sind Tar, Drun und Idda, die drei Mondschwestern.“ flüsterte
Jûl an seiner Seite. „Die Legende sagt, daß sie einst ein
einziger, gewaltiger Mond waren, der die Kräfte der Finsternis beherrschte.
Doch die Götter der T`Koshra haben das Böse vernichtet und in drei
Teile zerschlagen. Als Zeichen ihres Sieges sollen die Splitter nun ewig über
das Firmament ziehen und mit ihrem hellen Schein alle Kreaturen vor dem Bösen
warnen.“ Der Händler zog die Nase hoch und sortierte seine Decke.
„Ein-mal oder zweimal im Jahr liegen alle drei Monde übereinander.
Zum einen ist es die Zeit des Wachs-tums und der Regenzeremonie. Doch zum
anderen, heißt es, sei das Böse besonders mächtig. Und wenn
zu diesem Augenblick ein ganz bestimmtes Ritual durchgeführt wird, soll
das Böse von neuem entste-hen, mächtiger als je zuvor.“ Jûl
lächelte. „Solltest du also jemals eine Schriftrolle an diesem
Tag finden, lies sie bitte nicht vor. Schlaf jetzt. Wir haben viel Arbeit
vor uns, kleiner Mann.“ Er schloß die Augen und schnarchte sofort
los. Nekali drehte sich zur Seite und überlegte. Dann rüttelte er
an der Schulter des Händlers. „Jûl! Jûl, wach auf!“
Behende sprang der Mann auf die Beine, zog einen versteckten Dolch und wartete
ab. Als er sah, daß es keine Gefahr gab, setzte er sich wieder hin.
„Nekali! Wieso tust du das?! Was gibt es denn so Wichtiges, daß
du einen derartigen Lärm veranstalten mußt?!“
Der Junge machte eine unschuldige Mine. „Ich wollte dir nur sagen,
daß....“
„Was, bei dem allmächtigen Lho?! Was denn?!“ drängte
der Mann.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Das mit der Schriftrolle..ich kann
gar nicht Lesen!“
Jûl kippte langsam zur Seite und seufzte schwach. „Starker Lho!
Wenn der junge Fremde eine Prüfung für mich sein soll, laß
dir gesagt sein: Sie ist wirklich außerordentlich gelungen!“
*
Am folgenden Tag kletterte Nekali zusammen mit Jûl auf den Rücken
des Hldra. Dem Caderoneyaner stockte der Atem, als er begriff, was sein Freund
mit ihm im Schilde führte. Der Händler balancierte geschickt den
ausgestreckten Hals des Lastentieres entlang und stellte sich breitbeinig
auf die breite Schnauze des Wesens.
„Komm her zu mir, Nekali!“ forderte er ihn auf und hielt ihm
die Arme entgegen. „Es ist ganz leicht. Das gehört zum Beruf eines
Kaufmannes dazu. Nun mach schon, bevor ich den Hldra zum Niesen bringe und
du runterfällst. Und er hat noch nichts gefrühstückt!“
Der Junge nahm seinen Mut zusammen und ge-langte tatsächlich auf den
Kopf des Tieres. Entgegen seinen Vorstellungen war dessen Haut ganz warm und
trocken. Jûl klopfte seinem Schützling anerkennend auf die Schulter.
„Und zur Belohnung biete ich dir einen vorerst einmaligen Überblick
über die Vorstadt.“
Der
Händler gab ein helles Zischeln von sich und ruckte an den Leinen, welche
zu der widerhakenbesetzten Eisenstange im Maul des Lastentieres führten.
Der Hldra brüllte tief, und gehorsam hob er sachte den massigen Schädel,
bis der Hals senkrecht in der Luft stand, der Kopf jedoch in seiner waagrechten
Position blieb. „Schau dir das von oben an, Nekali. Ganz hübsch,
nicht wahr?!“ lachte Jûl und schnupperte. „So riecht ein
Tag, der Geschäfte bringt, mein Freund.“
Die Gespräche der Menschen auf den Straßen drangen gedämpft
nach oben, Wortfetzen und Lachen klangen herauf. Der warme Wind wehte Nekali
um die Nase und ließ die Kleidung flattern. Zwar ragte der Hals des
Tieres nicht über die eigentlichen Stadtmauern von Férúsòn,
doch was er hier zu sehen bekam, reichte dem Jungen.
„Dort, wo die Sonnensegel gespannt sind, bist du gestern herumgelaufen.“
Jûl deutete auf ein dicht bebautes Gebiet, das ungefähr ein Viertel
der Vorstadt ausmachte. Lustig blähten sich die bunten Stoffbahnen unter
den schwachen Böen und warfen knatternde Geräusche herüber.
„Zwischenhandel, so weit das Auge reicht.“ Vorsichtig wandte
der Kaufmann die Schultern des Knaben nach Süden. „Und da sind
die Kräne, Ent- und Beladestationen, Zollämter und Ruhelager.“
Enorme Holzkonstrukte ragten in den Himmel, die teilweise die Höhe der
massigen Tierleiber noch übertrafen. Bewegliche Gelenke erleichterten
das Manövrieren der schweren Ladungsbündel. Die verpackten Waren
befanden sich in Netzen, welche mit starken Tauen emporgezogen oder herabgelas-sen
wurden. Kleinere Echsen waren in Zuggeschirre gespannt und besorgten mit Muskelkraft
das Laufen der Seilwinden. Woanders dienten Laufräder, in denen ebenfalls
Hldras von geringer Größe ihre Runden drehten, zum Antrieb der
Flaschenzüge.
Nekali staunte nicht schlecht über die Vielseitigkeit der vor ihm ausgebreiteten
Dinge der Händler. Menschen oder Angehörige anderer Rassen wurden
ebenso verkauft wie Tiere, Trödlersachen, Gewürze, Waffen und Lebensmittel.
Die meisten Sachen kannte er noch nicht einmal.
Mitten unter den arbeitenden Leuten und Warenbergen huschten Männer
mit Kupfersiegeln um den Hals umher, machten sich eifrige Notizen auf Kreidetafeln,
verteilten Scheine und kassierten viel Geld.
Jûl hatte die Blicke des Jungen bemerkt. „Das sind die Zöllner
der Gilde, die Lo-Bra. Alles und jedes wird in Augenschein genommen, ob es
den umfang-reichen Bestimmungen entspricht und Einfuhrgebühren erhoben.
Ein einträgliches Geschäft für die Gilde, will ich meinen.“,
erklärte er. Dann breitete er die Arme aus. „Und wir, kleiner
Freund, stehen in dem Teil der Ruhelager. Um uns herum erholen sich Reisende
von den Strapazen ihres langen Weges..sei es aus der Kneipe oder aus einem
fernen Land!“, er zwinkerte gutgelaunt mit den Augenbrauen.
Nekali
hatte etwas entdeckt und zupfte an Jûls Ärmel. „Schau! Da
wird ein Kran für uns frei. Mach schnell, bevor ein anderer uns den Platz
wegnimmt!“ rief er aufgeregt.
„Du hast gute Händlerinstinkte, Junge.“ lobte der Mann,
zischte laut und ruckte an der Leine des Hldra. Langsam setzte sich das Lasttier
in Bewegung und gelangte unter der spielerisch anmutenden Leitung Jûls
an die unbesetzte Stelle. Ein weiterer Befehl brachte die Echse dazu, den
Kopf zu senken, so daß die beiden hinunterspringen konnten.
„Nekali, du bist doch bestimmt schon ein richtiger Mann, oder?!“
fragte Jûl mit feierlichem Unterton, und erhobenen Hauptes antwortete
der Dieb, „Natürlich! Was denkst du denn.“ Der Händler
grinste hinterhältig und drückte ihm ein Seil in die Hand. „Dann
paß auf den Hldra auf, bis ich wieder zurück komme.“ Jûl
grüßte und verschwand feixend in der Menge, während Nekali
schaudernd auf den Rachen der Echse blickte.
Das gewaltige Tier starrte ihn aus seinen geschlitzten Pupillen teilnahmslos
an, und irgendwie fühlte sich der Junge wie eine Fliege im Netz einer
Spinne. Doch heldenhaft klammerte er sich schwitzend am Hanftau fest.
Ein dünner Speichelfaden sickerte aus dem Mundwinkel des Hldra und tropfte
vor Nekalis Füße. Langsam öffnete die Echse das Maul und ließ
die schwarze gespaltene Zunge hervorschnellen.
Der Caderoneyaner schloß die Augen, holte tief Luft und... „Jûl!
Jûl! Das Vieh hat Hunger! Komm her und tu was!“ Nekali ließ
das Tau Tau sein und rannte los. In gebührendem Abstand hielt er an und
musterte das Wesen vorsichtig. Die Leute um ihn herum lachten schadenfroh
und beruhigten den Jungen so lange, bis Jûl zurückkehrte.
„Na, so weit ist es mit deiner Mannhaftigkeit noch nicht. Aber das
kommt noch. Spätestens, wenn du dem Hldra die Zähne geputzt hast...“
Nekali schrie entsetzt auf. Szaigg war sadistischer, als er zuvor angenommen
hatte! Brummelnd machte er sich an die Arbeit und begann, mit einem angespitzten
Holzstück bewaffnet, die Fleischfetzen aus den Winkeln des Echsenmauls
zu kratzen.
„In zwei Stunden können wir uns in der Innenstadt umsehen. Vorausgesetzt,
du bist dann fertig!“ sagte Jûl und reichte ihm einen Wasserschlauch.
„Immer schön kratzen, Nekali. Ich möchte keine Reste zwischen
den Zähnen mehr finden.“ Der Langfinger murmelte eine Verwünschung
und näherte sich dem Hldra.
*
Nach drei Stunden Arbeit war Nekali geschafft und die spitzen Zähne
der Echse sauber. Jûl brachte ihm einen Kessel von Wasser und bedeutete
ihm, sich zu waschen. „Sei vorsichtig und verspritz nicht zuviel. Diese
klare Flüssigkeit ist extrem wertvoll.“ - „Und was ist
mit dem Restwasser?“ - „Das bekommt der Hldra. Sie sind nicht
sehr wählerisch.“ Der Händler beobachtete die Anstrengungen
seiner Mitreisenden, die in Windeseile das Lasttier von den mitgebrachten
Waren befreiten. Der Junge staunte über die Trittsicherheit der Männer,
die in luftiger Höhe arbeiteten.
Ein kleiner Mann mit Kupfersiegel um den Hals kam heran und zückte erwartungsvoll
die Tafel. „Irth sei mit Euch, und möge der Baruc ewig leben!“
grüßte Jûl freundlich, legte die Hände auf die Brust
und verneigte sich dreimal. Der Zöllner erwiderte seine Geste und äugte
zu der Ladung.
„Was habt Ihr dabei, Kaufmann?“ „Nur ein paar Kleider
aus Arbachia, Öl aus den Hainen von Gufth und Seife direkt aus Querst.“
Der Gildenbeauftragte kritzelte auf die Tafel und stöberte in den Säcken
umher. „Habt Ihr unterwegs etwas Ungewöhnliches bemerkt?“
- „Nein, Lo- Bra. Es war eine angenehm ruhige Fahrt. Weshalb fragt
Ihr?“
Der Zöllner zupfte ein Kleidungsstück hervor und hielt es prüfen
gegen das Licht. „Wir haben von unseren Wüstenspionen erfahren,
daß die T`Koshra unheimlich ruhig geworden sind.“ Er legte die
Ware zurück. „Zu ruhig, wenn Ihr wißt, was ich meine! Ich
wünsche Euch einen guten Verkauf in Férúsòn, Händler.“
Er schrieb auf ein Stück Pergament und reichte es Jûl. „Das
macht 30 Kupferstücke.“
„Was?! Ich dachte, ich sei der Halsabschneider!“ rief der Kaufmann
und kramte nach der Geldbörse. „Ihr habt Pech. Eure Waren sind
zur Zeit sehr beliebt in der Stadt und daher hoch besteuert. Aber so vermögt
Ihr, alles wieder hereinzuholen.“ Seufzend zählte Jûl die
verlangte Summe in die Hände des Lo- Bra. „Irth sei mit Euch.“
sagte der Zöllner und steuerte den nächsten Händler an.
Ein großer Schatten huschte über Nekali hiweg. Verwundert blickte
er nach oben und sah ein weiteres Wunder von Férúsòn.
Hoch oben kreiste ein hldraähnliches Wesen, auf dessen Rücken ein
gepanzerter Mann saß und das Ungetüm lenkte. Mächtige, lederartige
Schwingen hielten die Echse in der Luft, deren langgestreckter Körper
wie ein Pfeil durch das Blau des Himmels schoß. Die Hornschuppen reflektierten
die helle Sonne und schillerten schildpattgleich in vielen Farben. Der Reiter
hielt ein leuchtend grünes Banner in die Höhe, das am Ende einer
Lanze im Luftstrom flatterte.
„Oha! Das sind die fliegenden Einheiten, von denen ich dir erzählt
habe.“ erklärte Jûl an seiner Seite, der die heuntergeklappte
Kinnlade des Jungen sanft nach oben drückte. „Die Tiere sind mit
dem Hldra verwandt, aber temperamentvoller und viel gefährlicher. Die
Krieger nennen sie Arelas, was soviel wie `Himmelssturm` bedeutet. Alleine
dieser Lho- Orden besitzt sie. Und solltest du zufällig einem dieser
Kämpfer in der Stadt begegnen, sei unterwürfig! Ihr Humor muß
irgendwann abgestorben sein.“
Majestätisch zog der Arela im Tiefflug über die Vorstadt. Nekali
konnte das Geräusch des Windes hören, das die Schwingen verursachten.
Am breiten Sattel war eine schwere Gelenkarmbrust befestigt. Auf der einen
Seite hingen die verschiedensten Geschoßarten, auf der anderen die schweren
Handwaffen des Kriegers. „Vermutlich ist es ein Erkundungsflug.“
mutmaßte Jûl.
Der Reiter dirigierte seine Flugechse über den Rand der Vorstadtmauer
und steuerte in die Wüste hinaus. Bald war er zu einem winzigen Punkt
am Horizont geworden, der sich in der gleißenden Helligkeit des riesigen
Tagesgestirnes verlor.
In der Zwischenzeit hatten die Begleiter des Händlers Karren und Zugtiere
besorgt und die Waren umgeladen. „Los, komm schon, Nekali. Ich zeige
dir, wie man die besten Preise herausschlägt. Und selbstverständlich
die Innenstadt.“
Sie ließen zwei Männer beim Hldra zurück und rollten vor
die Tore, die in den ersten Verteidigungswall führten. Die Kontrollen
waren, dank des Papiers des Zöllners, sehr kurz, und bald standen sie
vor dem geöffneten Westtor. Mit großem Interesse betrachtete der
Junge die enormen Wurfmaschinen und Schleudern, die von den Mauern herabdrohten.
Eindringlingen konnte der Spaß alleine beim Anblick vergehen!
Dann setzte sich der Karren in Bewegung und sie fuhren in das Herz Férúsòns.
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