eschreibsel

Eine Frage der Zeit

So hatte Duke sich das nicht vorgestellt, nicht ein bißchen. Wenn während seiner Zeit beim Militär auch nichts Vergleichbares vorgefallen war, so hatte er doch später - in der Notaufnahme des Universitätsklinikums - viele Leute sterben sehen, aber die meisten von ihnen waren sehr bald nach ihrer Einlieferung sehr tot gewesen, fast alle Opfer sinnloser Gewaltakte.

Fast alle... bis auf die paar Meta"menschen", die vielleicht überlebt hätten, wenn Duke nicht beschlossen hätte, der natürlichen Auslese ein wenig nachzuhelfen. Jedenfalls war der Tod stets viel zu schnell eingetreten, um sie irgendwie beunruhigen zu können...

Na ja, Mickey hatte den Gevatter wahrscheinlich auch nicht kommen sehen, und er war immerhin das gewesen, was man gemeinhin als Straßensamurai bezeichnete - ein mit superteurem Cyberscheiß vollgestopfter Raubritter. Jetzt war Mickey bloß noch ein Trümmerhaufen in der Garagenecke, und die kleinen grünen Plastikteilchen, die hinter ihm an der Wand klebten, stammten vermutlich aus seinem Gedankenfach. Die verdrehten Leichen der beiden fast genauso schlimm verdrahteten Ork - Hooligans, die an der durchlöcherten Mauer gegenüber lehnten, wollte Duke sich lieber nicht genauer anschauen. Dazu hätte er sich nämlich auf dem Palettenstapel, auf dem er rücklings gelandet war, verrenken müssen, und das war technisch gesehen unmöglich. Daß diese Trog - Idioten ausgerechnet auf sein Konto gingen, erfüllte ihn andererseits mit einem gewissen Stolz. Jawohl, sie gingen auf das Konto des gerade mal mit Army - Mindeststandard verchippten Dr. Dale V. Lawrence, dem seine Kommilitonen wegen der vorlauten Klappe den Titel "Duke" verliehen hatten... nicht auf das von Mickey Jones, dem schrecklich gefährlichen Samurai mit den großartigen Delta- Implantaten, der nach dem ersten Schußwechsel mit diesen Scheiß-Trogs buchstäblich auseinandergefallen war. Wäre die ganze Angelegenheit nicht so tragisch gewesen und hätte Duke nicht alles so verdammt weh getan, hätte er wohl gelacht.

Daß man sich so beschissen fühlen konnte... so schwindelig war ihm nicht einmal dann gewesen, als er drei Tage und drei Nächte lang durchgesoffen hatte. Auch der Hustenreiz irritierte ihn, und davon abgesehen war der metallische Geschmack auf seiner Zunge absolut zum Kotzen. Ach ja, bewegen konnte er sich übrigens fast gar nicht mehr.

"Jones, du Arschloch", krächzte er, "das ist alles deine Schuld, hörst du," aber Mickeys Überreste gaben keine Antwort, und dann stieg ihm wieder dieses Zeug in die Kehle, und er schluckte tapfer. Ein Glas Scotch wäre ihm lieber gewesen, schon alleine zum Desinfizieren. Definitiv. Ach, Drek...

Duke fragte sich beiläufig, ob er jetzt gerade genauso am Abkratzen wäre, wenn er sich nicht mit diesem Straßenräuber Jones herumgetrieben hätte, gelangte aber sehr schnell zu der Überzeugung, daß ihn Philosophieren nicht weiterbrachte - jedenfalls nicht, solange er noch eine realistische Chance hatte, lebendig aus der verdammten Garage herauszukommen.

Klar, und was für eine Riesenchance das ist, dachte er grimmig, während er versuchte, den Kopf ein wenig anzuheben; prompt zog es den auch schon wieder runter, so, als wöge das Ding eine Tonne.

Wen sollte das handtellergroße Loch in seiner Brust schon stören? Rot war seine Jacke vorher auch gewesen, und was machten ein paar Liter Blut mehr oder weniger aus? Daß die Scheiß - Reflexbooster komplett blockiert hatten, war auch kein Drama. Bedeutete das doch nur, daß er nicht einmal mehr dazu imstande war, von dem beschissenen Stapel 'runter zu kriechen, geschweige denn, das Knöpfchen des DocWagon - Armbands zu drücken.

Oh, Mann. Was für ein Scheiß.

Duke merkte, daß die Garage begonnen hatte, sich langsam um ihn zu drehen, und als wäre das nicht genug, fing irgend etwas in ihm an, ganz beschissen weh zu tun... ohne daß er hätte sagen können, was. Wieder kam dieses furchtbare Zeug hoch, das schmeckte, als hätte er Eisenstangen zum Frühstück verspeist, und diesmal mußte er würgen. Er hatte nicht die geringste Lust dazu, sich selbst und die Palette vollzukotzen, auf der er lag, also biß er die Zähne zusammen.

Nein, alleine kam er hier nicht wieder raus, soviel war klar. Falls sich nicht zufällig in der nächsten, sagen wir, halben Stunde ein hilfreiches menschliches Wesen in die verlotterte Gegend verirrte und den Drang verspürte, eine alte Autowerkstatt zu inspizieren, würde er ziemlich sicher ziemlich tot sein. Es war bloß eine Frage der Zeit.

Nicht, daß ihn die Vorstellung, den Löffel abzugeben, sonderlich schreckte, solange er sich sicher sein konnte, daß ihm hinterher nichts mehr weh tat...

Andererseits würde er dann garantiert auch nicht mehr dazu in der Lage sein, sich sinnlos zu besaufen oder auf der anderen Seite der Grenze mit dem MG auf die letzten Kühe in freier Wildbahn zu ballern. Überhaupt wäre er - wenn überhaupt - am liebsten im heimischen Bett an Altersschwäche gestorben oder mit einem geklauten Tanklastzug im Foyer des Lone Star- Zentralgebäudes zerschellt... wusch, Feuerball! Im Grunde genommen war alles besser, als in einer alten Garage mit einer Ladung Schrot niedergestreckt zu werden wie... wie ein Hirsch. Oder ein Samurai. Wie Mickey zum Beispiel, der blöde Idiot. Wie konnte man sich so sehr auf seine gottverdammte überlegene Technik verlassen?

'Hey, komm am Samstag abend doch mit nach Redmond,' hatte Mickey gesagt, 'da ist immer etwas los.‘

Ja, klar. Schlachtfest zum Beispiel.

"Eins schwöre ich dir," knurrte Duke und drehte den Kopf so weit in Richtung Garagenecke, wie es ging, ohne daß ihm schlecht wurde, "das war das allerletzte Mal, daß ich auf dich gehört ha-”

Was war das?

Entweder hatte Duke soeben spontan einen Gehörschaden erworben, oder draußen vor der Garage lief tatsächlich jemand herum!.

Das bildest du dir ein, sagte er sich milde erstaunt. Das kann gar nicht sein.

Andererseits hatten sowohl er als auch die Ork - Hools an diesem Tag den Weg hierher gefunden; wieso sollten nicht auch andere Leute in die Werkstatt stolpern?

Angestrengt sperrte er die Ohren auf, und tatsächlich, draußen waren Schritte zu hören, die Schritte mehrerer Personen auf dem Asphalt, die sich dem Garagentor, das Duke nicht sehen konnte, näherten.

Meine Güte, Lawrence. Tu was. Mach sie auf dich aufmerksam!

Gerne, aber wie? Das Ingram Valiant - LMG lag irgendwo in diesem Saustall, an einem Ort, an dem es für Duke unerreichbar war. Diese Methode, auf sich aufmerksam zu machen, fiel also flach. - Davon einmal ganz abgesehen - was, wenn es Mitglieder irgendeiner ortsansässigen Gang waren, die da draußen herumliefen?

Na, was schon, glaubte er Mickey sagen zu hören (aber natürlich war es nur Dukes innere Stimme - oder so - , die sich da hören ließ). Mehr als totschlagen können sie dich auch nicht, und weshalb sollten sie das tun? Ausrauben ist viel wahrscheinlicher, und dabei kommt dir mindestens einer von den Brüdern so nahe, daß du garantiert den DocWagon - Knopf gegen ihn drücken kannst.

Aber natürlich konnten es auch Metas sein, die vor der Garage herumtobten. Immerhin war es schon seit langem dunkel, und dann kamen sie ja erst aus ihren Löchern gekrochen, all die Elfen und Zwerge und... und Orks. Ja, verdammt - was, wenn es Orks waren, haarige, stinkende Orks? Oder vielleicht sogar TROLLE-

Hast du die Liste mit den metamenschlichen Rassen jetzt endlich durch? fragte der Möchtegern - Mickey in Dukes Kopf. Sieh es so, Lawrence, wenn sie dafür sorgen, daß du lebend aus dieser Geschichte rauskommst, kann es dir völlig egal sein, wie haarig und stinkig sie sind.

Duke seufzte. So schwer es ihm auch fiel, das zuzugeben, so wahr war es. Er wäre vermutlich sogar sehr, sehr dankbar, Trogs hin oder her. Irgendwie...

Außerdem hättest du es verdient, von einer Horde Trogs zu Brei geschlagen zu werden.

Halts Maul, Jones, dachte Duke und versuchte, sich auf die Schritte zu konzentrieren. Sie waren immer noch zu hören, und es waren mindestens zwei Leute, die sich da draußen herumtrieben. Und den Geräuschen nach zu schließen waren sie zumindest keine Trolle. Zu leicht...

Er reckte den Kopf ein wenig mehr, und diesmal war er noch schwerer als vorher. Natürlich mußte er ein bißchen röcheln.

"He, Jungs," wollte er eigentlich rufen, aber das, was herauskam, klang eher wie "Rgh.”

Streng dich an, Lawrence, sagte die Jones - Stimme in ihm.

"Ärrg.”

Das hatte kein Mensch da draußen hören können... geschweige denn verstehen.

Lauter, Lawrence, na los, lauter!

"Hallo," keuchte er, und noch einmal, "Hallo!", aber es klang immer noch nicht sehr beeindruckend. Die Schritte wurden wieder leiser.

Um Himmels Willen, laß sie nicht fortgehen!

Ja, jetzt hatte Duke erst recht keine Lust mehr darauf, in diesem Schuppen zu verenden, schon gar nicht, wenn die Rettung so nahe war... so nahe...

Er hob den megatonnenschweren Kopf so weit, wie es irgend ging, so weit, daß er sogar an Mickey vorbei sehen konnte, ungeachtet der Übelkeit und Schmerzen, und tatsächlich kamen plötzlich auch seine Schultern mit hoch.

"He", brüllte er so laut, wie er konnte, aber offenbar nicht laut genug. Die Schritte entfernten sich weiter.

"Ach, Scheiße," meinte er schwach und plumpste wieder zurück auf die Palette -

- die ganz gemächlich nach hinten kippte. Die gesamte Welt klappte hoch und drehte sich einmal um Duke, dann fiel ihm die Decke auf den Kopf, und mit lautem Getöse brach der ganze Palettenstapel in sich zusammen.

Als die Erde nach einem Weilchen wieder zum Stillstand kam, lag Duke mit der Vorderseite nach unten auf (und unter) ein paar zerknickten Holzlatten. Er konnte seine linke Hand sehen, und er bemerkte auch, daß sich der DocWagon - Knopf noch in dem gleichen jungfräulichen Zustand wie vorher befand. Dafür war dann aber ganz bestimmt auch sein Schädel zertrümmert, und das merkwürdige Gefühl, in einer absolut trockenen Garage abzusaufen, trug nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei.

Duke mußte (mal wieder) ein bißchen husten und würgen, und gerade, als er damit fertig war, wurde das Garagentor (das er immer noch nicht sehen konnte) mit einem leisen Rumpeln geöffnet.

Ja, es waren wohl zwei Leute, die sich vorsichtig in das Garageninnere hineinbegaben und dann stehenblieben.

Ein paar Sekunden lang war alles ruhig, dann sagte eine heisere Frauenstimme: "Oh, Großer Geist! Sieh doch nur, Jack, all die Drähte!”

"Bäh," entgegnete Jack. "Wie kann denn jemand so etwas Furchtbares tun?" Das klang nicht sehr feindselig. Duke versuchte, den Kopf zu heben, aber im Augenblick ging gar nichts mehr.

Na los, kommt schon her! Ja, genau, hier rüber! Hier bin ich, hier!

Ein kleiner Turnschuh tauchte von rechts in seinem Sichtfeld auf, und darüber kam eine blaue Jeanshose.

"Hallo, Jungs," brachte Duke gerade noch so (und nicht gerade passend) heraus, mehr recht als schlecht, aber es erzielte den gewünschten Effekt. Der Turnschuh zuckte zurück, und jemand - offenbar die Frau - sog scharf die Luft ein.

"Da. Da. Da ist noch einer, und er lebt noch!”

Auch Jack kam vorsichtig näher, und dann ließ er sich direkt vor Dukes Augen auf dem Betonboden nieder.

"Tatsächlich, der lebt noch.”

Jack sah auf seine Armbanduhr; das breite Grinsen machte das verwesende Gesicht des Ghouls nicht gerade hübscher, als er zu seiner Frau sagte, "Aber du kannst trotzdem schon das Campingbesteck bringen, Schatz. Schließlich ist es nur eine Frage der Zeit."

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