Die Gestaltwandlerin

Sie ist ein Gestaltwandler, ein recht geschickter Gestaltwandler, von dem man manchmal jedoch meinen könnte, er könne nichts für das ständige Verändern seines Aussehens. Ihr bloßes Dasein erschreckt die Menschen, schlägt Tiere in die Flucht, versetzt sogar den Teufel in Panik, ja, manchmal fragt man sich sogar, ob allerhand Gottheiten sich nicht auch vor ihr hüten müssen. Oft fürchten sich die Wesen schon vor ihrer möglichen Anwesenheit, allein der Gedanke daran läßt sie jedoch bereits erscheinen. Dabei kann sie eigentlich nichts dafür, daß sie geächtet ist, sie hat nichts getan, sie tut nichts, sie wird nichts tun, sie IST einfach.

Dabei durchläuft sie, ohne sich um Zeiten zu kümmern, mehrere Entwicklungsstadien, wie ein Mensch. Nur, daß es in ihrer Entwicklung keine Folge der Ereignisse gibt - sie durchläuft gleichzeitig so viele Entwicklungsstadien, wie es Wesen gibt, und sie hat etwa dreimal so viele Gesichter wie Entwicklungsstadien. An Gesichtern besitzt sie nämlich nicht nur die Gesichter bzw. Namen, mit denen sie die Wesen im Hier und Jetzt kennen, sondern auch diejenigen, an denen die Wesen sie erkannt haben oder in Zukunft erkennen werden. Hat man sich an eines ihrer Gesichter gewöhnt, so verblaßt sie meist und verschwindet wieder, um etwas später mit einem brandneuen Gesicht wieder aufzutauchen.

Leider ist es mir unmöglich, jedes einzelne ihrer Erscheinungsbilder aufzuzählen, denn sonst brauchte ich mehr als sieben mal drei Milliarden Sätze und mein Leben wäre nicht lang genug, um ihre Personenbeschreibung niederzuschreiben. Trotzdem kann ich versuchen, zumindest eine ihrer Millionen, Trillionen, Phantastillionen von Entwicklungen teilweise zu verfolgen und dabei einige ihrer Gesichter zu beschreiben.

Während dieser einen speziellen frühesten Kindheit hat sie vorerst noch die düstere und etwas schwammige Gestalt der Dunkelheit, die die Amsel auf dem Telegraphenmast zum Singen und ein Baby zum Schreien bringt. Manchmal nimmt sie auch schon jene unsichtbare Form an, die sie im Leben eines jeden Wesens immer wieder annimmt, nämlich dann, wenn jemand, den man liebt, aus dem Zimmer geht, wenn Winternacht das gewöhnliche Nachtblau durch Bleigrau ersetzt. In diesem Fall nimmt sie, wenn das betreffende Wesen bereits etwas älter ist, oft ihre schrecklichsten Gestalten an. Wenn das Wesen sie dann später genauer kennenlernt, kommen ihm diese frühen Gesichter später oft lächerlich vor. In diesem Stadium nimmt sie nämlich die Gestalt der Kinomonster an, sieht aus wie ein Mann mit einem Beil in der Schulter oder hat das Gesicht eines grausigen, blutrünstigen Gespenstes, eines Räubers oder einer ähnlichen irrealen Bedrohung. Etwas später sind es dann andere Wesen, die einen nicht schlafen lassen, Wesen, die man in der Schule oder einer ähnlich vertrauten und doch so feindlichen Umgebung gesehen hat und die, um sich selber zu beweisen, daß sie mit ihren eigenen Kinomonstern fertig werden, nichts anderes zu tun haben, als schwächeren Mitwesen das Leben zu erschweren und ihnen dadurch neue, diesmal realere Popanze zu schaffen.

Dann, wenn die irrealen Ungeheuer der Kindheit einmal bezwungen sind, nimmt SIE die realeren und doch so abstrakten Gesichter der Jugend an. Schlechte Schulnoten oder eine Scheidung können diese Gesichter sein oder das Handeln des Geliebten, der das nicht mehr lange bleiben wird.

Und schließlich, als Erwachsener, kämpft man gegen das eine Gesicht, das sie nie ändern wird und das man gar nicht beschreiben kann. Die beiden Eigenschaften "grau" und "allgegenwärtig", "andere Wesen" und "er, der in der grauen Winternacht aus dem Zimmer geht" treffen noch am ehesten zu. Im Prinzip ist jene vorletzte Form von ihr eine Form, die alle ihre vorhergehenden Gesichter vereinigt.

Oft taucht sie dort auf, wo sie noch fremd ist - in diesem fall ist sie sehr stark, denn wer sich bisher nicht fürchtete, ja nicht einmal an ihre Existenz glaubte, wird normalerweise eines ihrer leichtesten Opfer, da er nie gelernt hat, mit ihr umzugehen.

Ich hatte bislang zum Glück noch nicht das Vergnügen, in ihr allerletztes Gesicht zu blicken. Obwohl allein der Gedanke an dieses allerletzte Gesicht in uns allen die Ahnung eines sanften Grauens wachruft, träumte mir vor Kurzem, daß es eigentlich ihr prächtigstes Gewand sei, daß sie in diesem Moment all ihre schrecklichen Masken abnähme und darunter das Gesicht eines Engels habe.

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