"Und wenn ich es euch doch sage! Es war ganz genau so!"- "Aber
jeder weiß doch ganz genau, daß der Mond nur kaltes Licht hat. Es
ist einfach nicht farbig, ist es nie. Ich glaube, daß du zuviel getrunken
hast, und das hat deine Sicht getrübt." Alev und Kenab stritten schon
ziemlich lange. Der eine wollte dem anderen etwas Unglaubliches erklären,
und der andere... "Du glaubst auch nur, was du mit eigenen Augen gesehen
hast. Die Menschen haben da so eine Legende von ungläubigen Thomas. Genau
so einer bist du. Als ob ich lügen würde! Warum sollte ich denn? Ich
hätte doch gar nichts davon. Ach, wenn ich es doch nur geschafft hätte!
Vielleicht hätte ich dann etwas berichten oder mitbringen können,
das auch dich überzeugt hätte!”
Kenab seufzte resigniert, zuckte mit den Schultern und wendete sich ab. Er
hatte keine Lust, mit irgendwelchen mondsüchtigen Spinnern zu diskutieren.
Alev aber erzählte seine Geschichte noch einmal den neu Dazugekommenen,
die erst durch den Streit der beiden auf sie aufmerksam geworden waren. So ein
lauter Streit war selten, schließlich konnten Menschen auf sie aufmerksam
werden, auch wenn sie sich schon so gut es ging von besiedelten Orten fernhielten.
Nur war das gar nicht so einfach. Einige waren besorgt, daß sie schon
zu laut gewesen waren. Schließlich war es Nacht und die Stimmen trugen
weit, auch wenn sie nur von kleinen Elfen kamen. Trotzdem hörten sie Alev
zu, seine Geschichte klang interessant, auch wenn sie vielleicht einem Rausch
entstammte.
"Es war ganz seltsam, dabei ist mir am Anfang der Nacht nichts aufgefallen.
Der Mond schien wie immer, da war nichts Besonderes. Es war eben Vollmond und
etwas heller als sonst, auch wenn der Himmel etwas bedeckt war. Was soll ich
da viel erzählen, jeder von euch hat doch selbst gesehen, wie das Wetter
gestern war. Ich habe also ein wenig Nektar gegessen und auch ein paar Erdbeeren.
Davon bekommt man noch keinen Rausch! Ich habe mich glücklich gefühlt
und flog einfach so im Wald umher. Außer uns und den Tieren war niemand
da und ich konnte mich völlig ungestört bewegen. Das hatten wir schon
lange nicht mehr. Dann kam ich auf eine Lichtung und stand plötzlich wie
in hellem Licht gebadet. Nach der Dunkelheit des Waldes war ich fast geblendet.
Ich sah zum Mond auf und da war es! Er hatte Farben um sich herum wie einen
Regenbogen. Nicht so intensiv, eher etwas blaß und durchscheinend wie
ein Schleier. Und als ich so hochsah, überkam mich dieses Gefühl.
Eine Sehnsucht, und es war, als würde der Mond mich zu sich rufen. Es war
verheißungsvoll und angenehm. Ich fühlte mich sehr wohl. Ohne daß
ich es bemerkte, begann ich, hoch zu fliegen. Immer weiter nach oben. Ich hatte
keine Angst und wollte nur zu diesem Licht und den Schleier durchqueren. Ich
war schon weit über dem Wald und konnte in der Ferne die Lichter der Stadt
erkennen, als es plötzlich ganz anders wurde. Es war, als würde ich
hinter etwas herfliegen, das sich immer weiter von mir entfernt. Ich flog, so
schnell meine Flügel mich trugen, aber egal wie stark ich mich anstrengte,
es entfernte sich immer mehr, und das Sehnen wurde stärker. Dann war es
weg, und das Licht war auch wieder, wie es immer ist. Es war, als ob eine Tür
zugeschlagen worden wäre, und ich fühlte mich sehr traurig und enttäuscht.
Ich bin langsam wieder nach unten geflogen und konnte mich gerade noch zu meinem
Schlafplatz schleppen. Ich war ausgelaugt, und heute habe ich einen Flügelmuskelkater,
wie ich ihn noch nie im Leben hatte. Das ist für mich Beweis genug.”
Alev hatte alles erzählt und wartete nun die Reaktion der anderen ab.
Die waren ganz unterschiedlich und eine heftige Diskussion entstand, aber eine
leisere als vorher. Die meisten waren der Meinung, daß Alev trotz allem
einen Rausch gehabt oder etwas Falsches gegessen hatte. Das konnte schließlich
jedem einmal passieren, auch wenn das meist unangenehmere Folgen hatte. Ein
paar andere, die sich mehr mit Naturwissenschaften befaßten, sagten schließlich,
daß er einem optischen Phänomen zum Opfer gefallen sei, sozusagen
einer Sinnestäuschung. Da meldete sich der Alte zu Wort.
Kaum
jemand hatte bemerkt, daß er alles mitgehört hatte. Der Alte war
etwas Besonderes. Er wußte mehr als fast alle anderen Elfen, und er konnte
sich an Zeiten erinnern, als sie noch ungestört leben konnten und sich
nicht vor den Menschen verstecken mußten. "Es gibt eine alte Legende.
Sie ist so alt, daß auch ich nicht ihren Ursprung kenne oder weiß.
woher sie kommt." Die umherstehenden Elfen verstummten und hörten
aufmerksam zu. "Unser Volk lebte einst auch in einer anderen Welt als dieser.
Aber unsere Welten waren einander nah. Durch ein Tor waren die beiden Welten
miteinander verbunden und jeder konnte zwischen ihnen wechseln. Aber es kam
die Zeit, als die Tore sich immer weiter voneinander entfernten und der Weg
weiter und beschwerlicher wurde. Die Wissenschaftler untersuchten das und wendeten
ihre Künste an, um die Ursache zu ergründen und den Prozeß zu
stoppen. Aber sie versagten. Auch die Magie ließ sie im Stich. Nach einiger
Zeit war der Weg so weit, daß nur noch die Stärksten und die Entschlossensten
durch das Tor gehen konnten. Und schließlich war das Tor für alle
verschlossen. Die Welten waren zu weit voneinander entfernt." "Alter,
das ist ja eine schöne Sage, aber sollen wir das glauben? Was soll denn
das mit der Magie? Jeder erwachsene Elf weiß, daß es sie nicht gibt.
Das ist etwas für Kindergeschichten." Zweifler gab es überall
und Raudri gehörte oft zu ihnen. Er war zu sehr Realist und über die
Lebenssituation der Elfen zu verzweifelt, ohne etwas dagegen tun zu können.
"Ich habe in meinem langen Leben schon vieles gesehen, das mir heute niemand
mehr glauben möchte. Ich habe auch Elfen und Menschen - ja, Menschen -
Dinge tun sehen, die heute keiner für möglich hält und die nicht
mit irgendwelchen Naturwissenschaften zu erklären sind. Wer weiß,
vielleicht ist in der alte Legende ein Körnchen Wahrheit, und vielleicht
hat sie etwas mit Alevs Erlebnis zu tun. Ich für meinen Teil werde jetzt
mein Versteck aufsuchen, es ist schon fast Tag." Dagegen konnte niemand
etwas einwenden und jeder brachte sich in Sicherheit.
Einige vergaßen den Vorfall, einige taten ihn als Quatsch und das Geschwätz
eines alten Mannes ab. Aber einige träumten von einer besseren Zeit und
einem schönen Land, in dem die Natur nicht mit Füßen getreten
wurde und sie sich nicht verstecken mußten. Diese behielten den Mond im
Auge und beobachteten, ob sich sein Licht veränderte. Aber nichts geschah,
auch nicht am nächsten Vollmond. Das enttäuschte sie, auch wenn sie
sich gesagt hatten, daß alles sowieso nur ein Phantasiegespinst war.
Das Leben ging normal weiter. Aber eines Nachts fiel ihnen auf, daß Mina
nicht mehr da war. Ihre Freunde fingen an, nach ihr zu fragen, aber niemand
hatte sie in dieser Nacht gesehen. Sie waren einander alle eng verbunden, und
so quälte der Gedanke sie, daß Mina etwas zugestoßen sein könnte.
Niemand wagte den Gedanken laut auszusprechen. Eine Freundin hatte sie in der
Nacht vorher noch gesehen, und ihr war nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Sie fingen an, nach ihr zu suchen. Selbst das Wetter unterstützte sie.
In der Nacht vorher hatte es Gewitter gegeben und Wolken hatten den Mond verfinstert.
Aber heute waren nur einige wenige Wolken am Himmel, und der Mond, der gerade
seinen Höhepunkt überschritten hatte, schickte sein Licht ungehindert
herunter.
Nach langem Suchen fanden sie sie schließlich. Ihr kleiner Körper-
Mina war selbst für eine Elfe zierlich- lag zerschmettert unter einem Baum
am Rande einer Lichtung. Ihre zarten Flügel waren zerbrochen. Doch ihr
Gesicht zeigte eine Zufriedenheit und ein Glück, das sich Viele nicht erklären
konnten. In einer Hand hielt sie eine blasse weiße Blüte, die süß
und köstlich duftete. Sie sah noch sehr frisch aus. Noch niemand hatte
eine solche Blume gesehen oder wußte, woher sie kam.
Diejenigen, die zum Mond aufblickten, konnten sehen, daß er einen Schleier in den blassen Farben des Regenbogens umgelegt hatte.
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